Donnerstag, 14. März 2019
STERBEHILFE: Darf mein Vater das von mir verlangen?


Barbara M.; (42):
Als mein Vater mit 74 Jahren unheilbar krank wurde, hatte er nur noch eine Bitte: ich sollte ihn in eine Sterbehilfe- Klinik in der Schweiz bringen. Dieser Wunsch stürzte mich in große Gewissenskonflikte. Die moralischen Bedenken meiner Freunde und der Widerstand meiner Mutter machten die Entscheidung noch schwieriger ?
*
?Können Sie uns bitte ein aktuelles Foto Ihres Vaters faxen?? Die Stimme des Polizeibeamten am Telefon war ruhig und sachlich. Dennoch durchfuhr mich ein eisiger Schreck. Mein Vater war bei einer Nacht- und Nebelaktion aus der Universitätsklinik entwichen. Das Pflegepersonal hatte rekonstruiert, dass er einen Schreibtischstuhl mit Rädern aus dem Arztzimmer entwendet hatte, um seine Reisetasche damit zu transportieren. Ein aufmerksamer Taxifahrer hatte dann der Polizei gemeldet, dass ein älterer Herr einen Bürostuhl mit Tasche Richtung Bahnhof schieben würde. Nun machten die Beamten sich auf die Suche und wollten mit Hilfe des Fotos auch die Bevölkerung aufrufen, nach meinem Vater Ausschau zu halten.
Für meine Mutter und mich war das Ganze ein Alptraum. Vor circa sechs Monaten hatte mein Vater die niederschmetternde Diagnose erhalten, dass er an der unheilbaren Krankheit ALS (Amyotrophische Lateralsklerose) litt. Bei dieser Erkrankung kam es zu Schädigungen der Nervenzellen, die für die Muskulatur verantwortlich waren. Und zwar unwiderruflich und unweigerlich zum Tode führend. Nachdem er seine Finger und Arme kaum noch bewegen konnte, war zuletzt auch die Mundmuskulatur befallen. Mein Vater war kaum noch in der Lage sich zu artikulieren. Für einen so stolzen und unabhängigen Mann wie ihn, sicher ein unerträglicher Zustand. Die Ärzte hatten ihm noch ungefähr ein bis eineinhalb Jahre gegeben. Allerdings war diese Krankheit noch wenig erforscht. Sie überwiesen meinen Vater also in die Uniklinik zu weiteren Tests und Untersuchungen. Ich hatte von Anfang an das deutliche Gefühl, dass mein Vater die ganzen medizinischen Behandlungen eher meiner Mutter zuliebe über sich ergehen ließ. Sie konnte das drohende Ende ihres geliebten Ehemannes nicht akzeptieren. Ständig kam sie mit neuen Erkenntnissen von ihrem Arzt oder Bekannten zurück und drängte ihn, noch dieses und jenes Medikament einzunehmen. Mein Vater machte alles geduldig mit. Aber wenn er mich anblickte, sah ich in seinen Augen, dass er sich innerlich mit dem Tod zu arrangieren begann. Ich hätte gerne mit ihm alles besprochen, wozu meine Mutter nicht in der Lage war. Allerdings wurde unsere Kommunikation immer schwieriger. Außer Nicken und Kopfschütteln war an schlechten Tagen nicht mehr viel möglich.
Eines Tages hatte ich eine Idee. Ich kaufte ein Kinderspielzeug, das aus Holzwürfeln bestand, die mit Buchstaben bedruckt waren. Damit konnte man Kleinkindern Buchstaben und Wörter beibringen. Es brach mir fast das Herz, meinem Vater so etwas zuzumuten. Er war immer so stolz auf seine Bildung gewesen und bis ins hohe Alter sehr belesen. Aber ich musste es wagen. Es war wichtig, dass mein Vater die Gelegenheit bekam seine Gedanken und Wünsche auszudrücken. Unter Tränen packte ich die Würfel aus und erklärte meinem Vater die Funktion.
?Wie kannst du es wagen, Papa so zu beschämen??, brach es aus meiner Mutter heraus. Peinlich berührt wischte sie die Würfel vom Tisch. Mit roten Wangen und einem heißen Knoten im Magen begann ich die Buchstaben einzusammeln. Ich wagte es kaum meinen Vater anzusehen. Er war doch immer mein Held gewesen und nun war er nur noch ein Häufchen Elend. Ich wollte ihn ganz sicher nicht wie ein unmündiges Kind behandeln, aber was sollte ich tun? Da sah ich aus den Augenwinkeln, wie mein Vater nach einigen Würfeln griff. Mit viel Mühe, da die Muskeln seiner Finger sich ja auch schon zurück gebildet hatten, fing er an, Worte aus den Buchstaben zusammen zu legen.
`Feld bestellen`, stand dort. Ratlos sah ich meine Mutter an. Sie zuckte jedoch auch nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Mein Vater war nie in der Landwirtschaft tätig gewesen, sondern als kaufmännischer Angestellter. Ich grübelte über den Sinn seiner Worte nach. Wenn ich ihn jetzt frustrieren würde, weil ich nicht verstand, was er mir sagen wollte, würde er die Würfel sicherlich nie wieder benutzen. Ich zermarterte mir den Kopf und stellte noch ein paar Fragen. Plötzlich fiel mir ein, dass mein Großvater den Ausdruck `sein Feld bestellen` verwendet hatte, im Sinne von `seine Dinge regeln`. Mit tränenerstickter Stimme fragte ich ihn:
?Willst du deine Dinge regeln? Papa, glaubst du, dass du bald stirbst?? Es hatte mich ungeheure Überwindung gekostet, diese unfassbaren Worte deutlich auszusprechen. Aber war es nicht das, was meinem Vater jetzt als einziges in seiner Not helfen konnte. Jemand, der seine Ängste Ernst nahm und sich nicht scheute die schmerzhafte Wahrheit beim Namen zu nennen?
?Barbara! Was ist denn in dich gefahren??, schrie meine Mutter auf. ?Wie kannst du denn so etwas sagen?? Beschwichtigend wandte sie sich meinem Vater zu:
?Das meint sie nicht so, Walter. Du weißt ja, was sie für ein loses Mundwerk hat. Sie hat nicht richtig nachgedacht, bevor sie geredet hat. Alles wird wieder gut ...?
Aber mein Vater hörte ihr gar nicht zu. Er umfasste meine Hand mit seinen dünn gewordenen Fingern und nickte mit dem Kopf. ?Will sterben?, artikulierte er mühevoll.

Die Situation überforderte mich. Im Nachhinein glaube ich, das war auch der Grund, warum ich ein paar Tage den Kontakt zu meinen Eltern vermied und Arbeit vorschützte. Ich war ja keine professionelle Sterbebegleiterin. Wie sollte ich denn mit meinem eigenen Kummer umgehen und gleichzeitig meinen Eltern eine Stütze sein. Mal wieder bedauerte ich keine Geschwister zu haben. Wie schön musste es sein, sich mit Brüdern oder Schwestern beraten und austauschen zu können. Wie viel leichter wäre es gewesen, den Schmerz um den geliebten Vater teilen zu können. Aber alles Bedauern half nichts. Ich musste mich der Aufgabe stellen. Und so besuchte ich mein Elternhaus wieder regelmäßig. Anfangs glaubte ich noch, mein Vater wollte mit seinem Wunsch nach Sterben zum Ausdruck bringen, das er keine Hoffnung mehr auf Heilung hätte. Ich signalisierte ihm mein Verständnis und versprach, ihn mit seinen Befürchtungen ernst zu nehmen. Anders als meine Mutter, weigerte ich mich seinen Zustand weiter zu bagatellisieren. Das nahm er dankbar zur Kenntnis. Wie schrecklich musste es sein, angesichts des Todes, nur von Menschen umgeben zu sein, die kein Verständnis oder Einfühlungsvermögen aufbrachten. Meine Mutter meinte es sicher gut. Aber sie war mit ihren fast siebzig Jahren emotional einfach nicht in der Lage, sich mit meinem Vater über seinen beängstigenden Gesundheitszustand auseinander zu setzen. Zu schmerzlich war wohl der drohende Abschied von ihrem jahrzehntelangen Weggefährten. Also war ich in der Verantwortung, den Kopf nicht in den Sand zu stecken und meinem Vater auf dem letzten Stück seines Weges tapfer beizustehen.
Eines Tages deutete er auf eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift. Die Sendung am Abend, auf die er seinen Finger legte, beschäftigte sich mit dem Thema Sterbehilfe. Erschrocken sah ich meinen Vater an. Das konnte er doch wohl nicht von mir verlangen.
?Papa, das ist in Deutschland verboten! Und das aus gutem Grund. Ich kann dir nicht einfach irgendwoher Gift besorgen.? Entrüstet wehrte ich das Ansinnen ab. Mir war zwar klar, dass der Ausgang seiner Krankheit im letzten Stadium die Hölle sein konnte. Aber dass er in Kauf nahm, dass man mich für seine Tötung vor Gericht stellen würde, irritierte mich doch sehr. Er legte die Hände auf seinen Brustkorb und sog mühevoll die Luft in die Lungen. Es war klar, dass er damit darauf hinweisen wollte, dass er elendig ersticken würde, wenn die Muskellähmung die Lungen erreicht hätte. Mir liefen vor Angst und Mitgefühl die Tränen die Wangen hinab. Ich versprach ihm, mir die Sendung abends wenigstens anzusehen.
Es war ein sehr differenzierter Bericht über das Für und Wider der Sterbehilfeangebote in der Schweiz. Die Gegner unterstellten den Betreibern Geldmacherei. Es wurden Aussagen von anonymisierten Angehörigen gezeigt, die angaben, wegen Überfüllung des Appartementhauses in einem Wohnmobil auf dem zugehörigen Parkplatz untergebracht worden zu sein. ´Du meine Güte`, dachte ich. Seinen eigenen Vater in einer Campingplatzatmosphäre sterben zu lassen, fänden sicher die meisten Menschen geschmacklos. Auf der anderen Seite wurde geschildert, dass die Patienten von mindestens zwei Ärzten ihrer Heimat eine Bestätigung darüber beibringen mussten, dass ihre Erkrankung definitiv unheilbar und im Endstadium war. Vor Ort würden nochmals Untersuchungen von einem unabhängigen Arzt durchgeführt. Darüber hinaus würde, bevor es endgültig so weit wäre, wiederholt gefragt, ob es jetzt dem Wunsch des Patienten entspräche, nun zu sterben. Erst dann würde ein Medikamentengemisch verabreicht, das schließlich zum Tode führte. Auf Wunsch könnten die Angehörigen die ganze Zeit dabei sein, den Prozess begleiten und sich in Ruhe verabschieden. Das beruhigte mich ein bisschen. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Wie sich allerdings herausstellte, hatte meine Mutter sich geweigert eine Fernsehsendung über ?Sterbetourismus?, wie sie es nannte, zu sehen. Mein Vater sah mich fragend an.
?Ich kann mich ja wenigstes Mal erkundigen, wie das so laufen könnte?, stellte ich ihm in Aussicht. Dankbar lächelte er- endlich wieder einmal.
Wie sich heraus stellte, musste mein Vater erst einmal Mitglied in dem Verein werden. Diese Mitgliedschaft kostete auch einen gewissen Beitrag im Jahr. Das Geld würde für Aufklärungskampagnen und für die Unterhaltung der Immobilie verwendet. Aber auch die Unterbringung von finanzschwächeren Angehöriger würde damit bezuschusst. Die Untersuchung, Betreuung und letztendlich die Vergabe der Medikamente war natürlich auch nicht kostenfrei. Das Einholen der Informationen und auch die Beschäftigung mit der möglichen Organisation des Transports belasteten mich nur wenig. Das ganze Unterfangen erschien mir auch noch nicht real. Es fühlte sich eher an wie einen zu Urlaub buchen. Als ich jedoch die sachlichen Dinge erledigt hatte, krochen ganz allmählich Zweifel und Skrupel in mein Herz.

Die nächsten drei Wochen waren die schlimmsten meines Lebens. Als mein Vater zusehends schwächer wurde, suchten wir seinen Hausarzt auf und besprachen mit ihm die Pläne meines Vaters, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Er überwies uns zu einem ortsansässigen Neurologen, da mein Vater sich weigerte noch einmal in die Klinik zu gehen. Die Ärzte hatten ethisch recht unterschiedliche Haltungen zum Thema Sterbehilfe. Beide klärten uns aber neutral und sachlich über den zu erwartenden weiteren Verlauf der ALS- Erkrankung bis zum Tode auf. Keiner von beiden versuchte meinen Vater oder mich zu beeinflussen oder unter Druck zu setzen. Ich bin noch heute dankbar für die fachliche Unterstützung.
Anders war es im familiären Umfeld und Bekanntenkreis. Meine Eltern sprachen mit ihren eigenen Freunden und Bekannten, so viel ich weiß, überhaupt nicht über dieses Thema. Schwäche oder Schmerz zu zeigen war in ihrer Generation verpönt. ?Man muss immer tapfer sein!?, war Mutters Devise. Vor Besuchern wurde der Zustand meines Vaters totgeschwiegen oder bagatellisiert. Oft hörte ich zum Abschied joviale Floskeln, wie: `Es wird schon wieder, Walter. Halt die Ohren steif `. Für mich waren die vertanen Chancen, sich in Würde und Respekt voneinander zu verabschieden, sehr traurig. Wie es meinem Vater damit ging, und ob er sich etwas anderes gewünscht hätte, werde ich nie erfahren. Mit meiner Mutter kann ich bis heute nicht über ihre Gefühle sprechen.
?Quäl mich doch damit nicht, Kind. Das ist doch jetzt Vergangenheit.?
Nun, ich konnte und wollte meine Gefühle nicht verbergen. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Auf Grund meiner großen Gewissensnöte schlief ich kaum noch; und wenn, dann hatte ich Alpträume. Die Träume handelten meistens von dem gleichen Horrorszenario, das mich auch tagsüber immer wieder umtrieb. Meine beste Freundin Anne fragte mitfühlend:
?Was quält dich denn eigentlich so, Barbara. Ich denke, du hast dich doch eigentlich schon längst entschieden?!?
Dadurch kamen endlich die ganzen schmerzhaften Zweifel an die Oberfläche:
?Was, wenn es doch Heilung gäbe? Wenn kurz nach der Tötung auf Verlangen ein Mittel gefunden würde, das meinem Vater noch zehn oder gar zwanzig schöne Jahre hätte ermöglichen können. Das würde ich mir doch niemals verzeihen ??, schluchzte ich. `Und meine Mutter schon mal gar nicht`, dachte ich insgeheim. Nicht auszudenken, wenn ich mich dann vor ihr dafür verantworten müsste. Das Verhältnis zu meiner Mutter stand ja auch jetzt schon auf der Kippe. Wir wollten beide das Richtige tun. Wir wollten beide einem geliebten Menschen helfen. Aber eben auf unterschiedliche Art und Weise. Die Kluft, die es mittlerweile zwischen ihr und mir gab, war kaum noch zu überbrücken. Anne verzog zweifelnd ihr Gesicht: ?Trotzdem, wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit eines Heilmittels in naher Zukunft? Sicher, die Spezialisten in der Uniklinik stellen mittelfristig Forschungsergebnisse in Aussicht. Prominente Persönlichkeiten haben sich im Internet schon mal Kübel voller Eiswürfel über den Kopf geschüttet, um auf die tückische Krankheit aufmerksam zu machen und Spenden zu sammeln, aber ??
?Ja, ja?, fiel ich ihr ins Wort. ?Ich weiß es doch. Für meinen Vater kommt das alles zu spät. Ach Anne, was soll ich nur tun??
Aber meine Freundin konnte mir die schwerste Entscheidung meines Lebens auch nicht abnehmen. Früher wäre ich Rat suchend zu meinem Vater gegangen. Verzweifelt machte ich nun alles mit mir alleine aus.
Meine Freunde und Kollegen machten sich bald Sorgen wegen meines Gewichtsverlustes oder sprachen mich auf meine dunklen Augenringe an. Als ich unsere Pläne, meinen Vater zum Sterben in die Schweiz zu bringen, offenbarte, ergoss sich ein Sturm der Entrüstung über mich. Aber auch über meinen Vater. Manche meiner engen Freunde waren der Ansicht, so etwas Grauenvolles dürften Eltern von ihren Kindern nicht verlangen. Das sei nicht nur moralisch verwerflich sondern auch eine Zumutung für meine psychische Gesundheit. Er dürfe mir nicht die Mitverantwortung für seinen Tod aufbürden. Alle hatten plötzlich eine feste Meinung zu einem Thema, über das wir vorher nie gesprochen hatten. In meinem Kopf drehte sich alles. Durfte mein Vater das tatsächlich von mir erbitten, oder war das egoistisch von ihm? Sollte man das Leben und Sterben allein in Gottes Hand lassen, wie eine Kollegin zu bedenken gab? Ich wusste nicht ein noch aus.
Erst als meine Freundin mich fragte: ?Wann genau wollt ihr denn fahren??, wurde mir die ganze Tragweite der Entscheidung bewusst. Ja, wann? Wie entscheidet man, wann man seine Eltern ins Auto packt und in die Schweiz fährt, als machte man einen Familienausflug? Nur, dass diese Reise damit endete, dass der Vater auf Wunsch getötet würde. Auf einmal kam mir die ganze Situation absurd vor. Das war doch wirklich zu viel verlangt. Gab es denn keine andere, humanere Möglichkeit? Ich versuchte ein letztes Mal mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Wir beide waren doch schließlich diejenigen, die meinem Vater am nächsten standen und diese Entscheidung gemeinschaftlich treffen sollten. Meine Mutter machte mir jedoch unmissverständlich klar, dass sie nicht mitfahren würde.
?Als der Papa den Lumpi hat einschläfern lassen, bin ich auch nicht mit. Ich kann so was nicht.?
Der Vergleich klang in meinen Ohren makaber. Wer aber jemals vor der Entscheidung stand, wann er sein, über alles geliebtes, Haustier zum Erlösen zum Tierarzt bringen sollte, kann den Schmerz in etwa nachvollziehen.

In diesem Zwiespalt der Gefühle sah ich meinen Vater weiter zugrunde gehen. An dem Tag, als ich vom Flur aus sah, dass meine Mutter ihm die Hose nach dem Toilettengang hochziehen musste, fasste ich meinen Entschluss. Niemand hatte es verdient so qualvoll zu enden. Das wollte ich meinem geliebten, großen, starken Papa nicht antun. Er hatte mich in meinem Leben immer unterstützt- egal, ob es um Scheidung oder Finanzierung einer Wohnung ging. Wenn das jetzt sein letzter Wille und einziger Wunsch an seine Tochter wäre, dann musste und wollte ich ihm den erfüllen.
Schweren Herzens nahm ich Kontakt zu der Klinik in der Schweiz auf. Ich vereinbarte dort einen Termin für meinen Vater und buchte eine Ferienwohnung für meine Mutter und mich. So ganz hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie uns begleiten würde. Die nächsten Tage verlebte ich wie im Nebel. Ich besorgte aktuelle Atteste von den beiden Ärzten, beantragte Urlaub und packte Sachen zusammen. Wahrscheinlich traf ich noch eine Menge mehr Vorbereitungen. Ich kann mich aber beim besten Willen kaum noch an diese traumatische Zeit erinnern. Einen Satz, den mir der alte Nachbar unserer Eltern an der Haustür hinterher schrie, den werde ich allerdings mein Lebtag nicht vergessen: ?Dafür kommst du in die Hölle!?
Das wird mir allerdings hoffentlich erspart bleiben. Mein Vater hat mich nämlich letztendlich doch noch von dieser unmenschlichen Aufgabe erlöst. Drei Tage später rief meine Mutter gegen zehn Uhr an. Die Ärztin meinte ich solle schnell kommen. Mein Vater würde, aller Vorrausicht nach, den Tag nicht überleben.
?Er ist auf der Toilette einfach zusammen gebrochen?, schluchzte meine Mutter. Sie hatte den Notarzt rufen müssen. Obwohl mein Vater zu dem Zeitpunkt, auf Grund des Muskelschwunds, nur noch 47 Kilogramm wog, war sie nicht in der Lage ihn ins Bett zu hieven. Jetzt lag er ohne Bewusstsein da und sog mit viel Kraftaufwand Luft in seine Lungen. Seine Hände und Füße waren unnatürlich geschwollen. Er würde nicht wieder wach werden, sagte die Ärztin. ?Wir sorgen dafür, dass er nicht leiden muss, bis der Atem still steht?, versicherte sie mir. ? Machen Sie sich keine Gedanken darum.?
Sie kam an dem Tag noch dreimal wieder. Das war sehr tröstlich für uns. Ich blieb bei meinem Vater, hielt seine Hand und massierte ihm die Füße. Auch versprach ich ihm, mich um meine Mutter zu kümmern, wenn er nicht mehr bei uns war.
?Du darfst ruhig gehen, Papa.?
Kurz nach 18 Uhr nahm er noch einen quälenden Atemzug. Dann war es still.
Eine zusätzliche Belastung war für meine Mutter und mich die abschließende Untersuchung, die ausschließen sollte, dass mein Vater auf Grund von Fremdverschuldung verstorben war. Wir waren entsetzt, dass wir in unserer Trauer mit so einem unglaublichen Verdacht konfrontiert wurden. Allerdings versicherte uns die Ärztin, dass dies absolute Routine und Vorschrift sei. Zu viele Angehörige wollten ihren Liebsten das Leiden selber verkürzen. Auf diese furchtbare Idee war ich während der ganzen Zeit gar nicht gekommen. Mein Vater zum Glück auch nicht; jedenfalls hat er es nicht geäußert. Wie groß muss das Leid und die Verzweiflung bei manchen Menschen sein, wenn sie zu dieser Tat schreiten und sich auch noch dabei strafbar machen ?
Heute bin ich meinem Vater sehr dankbar, dass er mir die Entscheidung zur Fahrt in die Sterbeklinik erspart hat. Hätte ich es letztlich getan? Nach einem Jahr Abstand und vielen therapeutischen Gesprächen zur Aufarbeitung des Erlebten, kann ich sagen: Ja! Es war der letzte Wunsch meines Vaters an mich, sein einziges Kind. Ein Mann, dem es immer wichtig war selbstbestimmt zu leben und, eben auch, selbstbestimmt zu sterben. Und ich weiß: wenn ich jemals in so eine Situation käme, würde ich mir wünschen auch jemanden zu haben, der das für mich täte. Ob die ALS- Krankheit vererbbar ist, ist noch unklar. Die familiäre Häufung liegt bei 5- 10 Prozent. Allerdings weiß ich nun ganz genau in welche ungeheuren Gewissenskonflikte jemand kommen kann, dem solch eine Bitte angetragen wird. Ich kann nur appellieren, weder mit psychologischem Druck dafür noch mit der moralischen Keule dagegen zu argumentieren. Dies ist eine Entscheidung, die jeder Mensch ganz alleine mit seinem Gewissen ausmachen muss.

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CHANCENLOS: Meine Rivalin war die Musik!


Vicky B.; (37):
Der Konzertbesuch sollte ein unvergessliches Geschenk für meinen Freund werden. Doch dann verschwand Carsten spurlos hinter der Bühne. Die Aussprache, als ich ihn wieder aufgespürt hatte, öffnete mir endlich die Augen ?
*
Während der Zeit unseres Kennenlernens fand ich Carstens Leidenschaft für die Bluegrass- Musik noch richtig rührend.
?Wenn die Abendsonne auf die Weiden von Kentucky scheint, schimmert das Gras blau!?
Begeistert erklärte er mir stundenlang Ursprung, Instrumente und Liedtexte. Es war auch durchaus romantisch, wenn er mir am Lagerfeuer Titel wie `Je länger das Warten, umso süßer der Kuss` vorsang. Das hatte durchaus mein Herz berührt. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass seine Passion innerhalb von knapp zehn Jahren ein Fluch für unsere Beziehung werden würde.
Als Erzieherin hatte ich einen anstrengenden Beruf. An manchen Wochenenden war ich auch froh, wenn ich mich einfach mal ausruhen oder mit meinen Freundinnen treffen konnte. Carsten war in den letzten Jahren allerdings in jeder freien Minute, die ihm sein Schichtdienst als Polizist ließ, unterwegs zu Bluegrass- Festivals. Ich gönnte ihm den geliebten Ausgleich zum Beruf von Herzen. Auch verstand ich, dass er innerhalb Deutschlands weit reisen musste, um Gleichgesinnte für diese ungewöhnliche Musikrichtung zu finden. Seine Ausflüge wurden allerdings immer länger und gingen mittlerweile bis Frankreich, Belgien und Holland. Gemeinsame Freizeit gab es so gut wie gar nicht mehr. Ich war nun aber in einem Alter, in dem sich bei mir der Wunsch nach eigenen Kindern immer deutlicher meldete.
?Noch das Festival im Pfälzer Wald?, bat er, ?dann können wir ja mal sehen.?
Doch danach kam ein weiteres Musikertreffen in Polen und ein Mundharmonika- Workshop in Finnland. Schließlich einigten wir uns auf seinen 40. Geburtstag. Danach würden wir unsere Hochzeit und unsere Familiengründung planen.
Ich war so froh und dankbar, dass ich ihm ein besonderes Geburtstagsgeschenk machen wollte.
?Köln??, fragte er verwundert. ?Wieso denn ausgerechnet Köln??
Ich musste innerlich schmunzeln als ich Carstens ratlosen Blick sah. Er hielt an seinem runden Geburtstag zwei Flugtickets und Übernachtungsgutscheine in der Hand.
?Lass dich überraschen, mein Schatz- du wirst Augen machen!?
Ich freute mich so sehr, dass es mir gelungen war, zwei Konzertkarten für Carstens absolutes Musikeridol, Nelly Wilson, in Köln zu ergattern. Das würde ein Höhepunkt in seinem Musikerleben werden. Wie ein Kind freute ich mich auf den Moment. Wenn ich geahnt hätte, was mir selbst für eine schreckliche Überraschung bevor stand ?

Carsten war ziemlich still, als wir die Koffer in unserem Kölner Altstadthotel auspackten.
?Und jetzt? Was möchtest du in Köln besichtigen??, fragte er lustlos.
Ich hielt ihm die Augen zu und führte ihn zu den Konzertkarten, die ich auf der Tagesdecke drapiert hatte.
?Nelly Wilson! Nelly Wilson? Mein Gott Vicky, das hast du für mich gemacht? Danke, du bist die Beste!? Er enttäuschte mich nicht mit seinem Freudenausbruch. Die Überraschung war gelungen.
?Weißt du, Nelly ist die beste Stimme der ganzen Bluegrass- Szene. Sie spielt die Mandoline wie keine andere und ??, sprudelte es aus ihm selten lebhaft heraus. Fast verspürte ich etwas Eifersucht, als er auch noch davon schwärmte wie sexy Nelson Wilson in ihrer knappen Fransenweste aussähe. Aber ich lachte und mein Herz floss über vor zärtlicher Liebe angesichts seiner kindlichen Freude. So viel hatte er seit Jahren nicht mit mir gesprochen.

Carsten war weiter wie ausgewechselt, als wir zusammen mit anderen Fans in die Konzerthalle strömten. Er fachsimpelte mit völlig Fremden, tauschte Telefonnummern an der Theke im Foyer aus und summte selig vor sich hin. Ich kam mir unsichtbar und überflüssig vor, wie meistens, wenn es um seine Musik ging. Neid bohrte sich wieder in mein Herz. Ich wünschte mir so sehnlich, er hätte auch mit mir so eine gemeinsame Leidenschaft. Aber egal, diesen Abend wollte ich in vollen Zügen mit ihm genießen.
Während des Konzerts war ich bei meinem Freund natürlich komplett abgemeldet. Er schien hingerissen von der Show. In der Pause vor dem letzten Set geschah es. Als die Musiker ihre Instrumente für den Titel stimmten, zog Carsten plötzlich seine Mundharmonika aus der Tasche und begann Nellys Wilsons erfolgreichsten Titel zu spielen. Nelly stutze, trat an den Bühnenrand und rief einem Security- Mitarbeiter etwas zu. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Bestimmt warf man uns jetzt raus. Aber im Gegenteil: Carsten wurde an die Seite der Bühne geführt und sprang munter die Stufen hoch. Nelly forderte das Publikum auf zu applaudieren und stimmte ihren Superhit an. Carsten sah kurz unsicher zu ihr hinüber und begleitete sie dann aber selbstsicher auf seiner Mundharmonika. Unfassbar! Von diesem Augenblick würde er sicher noch jahrelang zehren und mir ewig dankbar sein. Daran glaubte ich in diesem Moment jedenfalls ganz fest.

Carsten durfte tatsächlich bis zum Schluss auf der Bühne bleiben. Nach der letzten Zugabe bedankte sich Nelly Wilson bei ihrem Publikum. Ich verstand nur die Worte `german guy` und `backstage`. Um meinem `deutschen Jungen` zu signalisieren, dass ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn er noch kurz mit hinter die Bühne ginge, versuchte ich Blickkontakt zu ihm zu bekommen. Aber Carsten guckte mich gar nicht an. Er winkte fröhlich ins Publikum und verschwand hinter dem Vorhang.
Also blieb mir nichts anderes übrig als zu warten. Das Auditorium leerte sich allmählich. Einige Fans grinsten mich an oder klopften mir auf die Schulter. Schließlich ging ich ins Foyer und holte schon mal unsere Jacken von der Garderobe. Als schließlich alle Leute verschwunden waren, kam der Hausmeister und begann die Plastikbecher zusammen zu fegen. Er führte mich schließlich hinter die Bühne, um Carsten mit mir zu suchen.
?Wo ist der Typ mit der Mundharmonika??, fragte er den Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst, der Carsten auf die Bühne geleitet hatte.
?Der ist weg!?, antwortete dieser lapidar.
?Wie, weg??, fragte ich verständnislos. Daraufhin deutete er nur auf den Tourbus mit dem übergroßen Konterfei von Nelly Wilson auf der Seite, der sich gerade in Bewegung setzte. Und im selben Augenblick sah ich ihn auch. Carsten! Nur schemenhaft hinter der Heckscheibe, aber doch deutlich zu erkennen mit Nellys Möchtegern- Cowboyhut. Der Bus bog um die Ecke der Konzerthalle und mein Freund war weg ?

Die erste Nacht im Hotel blieb ich noch relativ ruhig. Allerdings schreckte ich immer wieder aus einem leichten Schlaf, in der Annahme, ich hätte ihn gehört. Einmal versuchte ich ihn auf dem Handy zu erreichen, doch der Apparat klingelte auf seinem Nachttisch. Gegen drei Uhr wich meine Sorge langsam einer heftigen Wut wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Dann redete ich mir aber wieder gut zu. Sollte er doch seinen Spaß haben und mit den Musikern durch die Kneipen ziehen. Irgendwann im Morgengrauen musste er ja wieder auftauchen.
Doch das tat er nicht. Gegen acht Uhr ging ich in den Frühstücksraum. Vielleicht saß er ja schon längst beim Kaffee und wollte mich nur nicht wecken. Aber nein. Die Tränen der Enttäuschung schnürten mir die Kehle zu. Was sollte ich denn bloß tun, wenn er nicht wiederkam?
Gegen Mittag fragte ich an der Rezeption, ob jemand eine Nachricht für mich hinterlassen habe. Aber auch das war nicht der Fall. Auf Grund der Müdigkeit und des Wechselbads der Gefühle brach ich dort in Tränen aus, als ich dem Herrn am Empfang die Situation schilderte.
?Können wir die Polizei einschalten??, schniefte ich verzweifelt.
?Das wird wohl noch zu früh sein. Außerdem handelt es sich ja um einen erwachsenen Mann. Warten Sie mal ab. Bald taucht er hier reumütig wieder auf?, versuchte mich der Hotelmitarbeiter aufzumuntern.
Ich wagte nicht mich weit vom Hotel zu entfernen, falls Carsten versuchen würde, mich zu erreichen. Also hielt ich mich abwechseln auf meinem Zimmer, im Foyer und schließlich in der Hotelbar auf. Dort trank ich zur Beruhigung mehr als ich eigentlich vertragen konnte. Irgendwann stellte sich mein benebelter Kopf die Frage, was ich eigentliche hier machte. Auf was für einen Mann wartete ich hier, der mich einfach stehen ließ und ohne ein Wort verschwand? Und warum tat er das- war ich ihm so wenig wert?
Fragen über Fragen taten sich in den nächsten Stunden auf, denen ich mich vorher nie hatte stellen wollen. Zuletzt zweifelte ich daran, ob unsere Beziehung überhaupt noch einen Zukunft hätte. Ich war bald Ende 30 und wünschte mir endlich eine Perspektive. Kinder, eine Familie mit einem Mann, dem ich vertrauen und auf den ich mich verlassen konnte. War das mit Carsten überhaupt möglich?

Als Carsten am nächsten Morgen immer noch spurlos verschwunden blieb, führte der Empfangschef mich zum Hotelmanager. Er bot mir an nun die Polizei einzuschalten.
?Ich hätte da aber auch noch eine andere Idee?, meinte er. ?Wenn Sie möchten, erkundige ich mich beim Konzertveranstalter, wo die Band den nächsten Auftritt hat. Dann besorgen wir ihnen einen Leihwagen und Sie könnten hinterher reisen.?
Im ersten Moment wollte ich das Angebot empört zurückweisen. Ich lief doch keinem Mann nach, der mich so behandelte! Doch dann entschied ich mich anders: ich wollte eine Erklärung. Carsten sollte mir ins Gesicht sagen, was er sich dabei gedacht hatte. Und vor allem, warum ich ihm noch nicht einmal eine Nachricht wert war?
Der nächste Gig der Nelly- Wilson- Band war vom Hotelmanager schnell herausgefunden und mit dem Leihwagen auch gut zu erreichen. Mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf nach Münster.
Ich kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen des Kulturzentrums schlossen. Gespannt wartete ich im hinteren Teil, ob Carsten auch hier auftreten durfte. Tatsächlich spielte er wieder das letzte Set mit. Meine Gefühle fuhren Achterbahn bei seinem Anblick. Wir waren fast zehn Jahre ein Paar. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr richtig vorstellen. Aber fühlte er das gleiche für mich? Warum behandelte er mich so desinteressiert? Liebte er die Musik tatsächlich mehr als mich? Was hätte ich jemals für Chancen gegen so eine Rivalin?
Carsten legte sich richtig ins Zeug. Doch als die Background- Sängerin auf ihren hochhackigen Overknee- Stiefeln auf ihn zustöckelte, gab er noch mal alles. Lasziv warf sie ihre roten Locken in den Nacken, als sie ihn schmachtend an sang. Vielsagend reckte sie ihm ihr in Leder geschnürtes Mieder entgegen. Eine perfekte Show- oder war es mehr? Eine nie gekannte, hässliche Eifersucht nagte in mir.
Als die letzten Töne verklungen waren und die Scheinwerfer ihn nicht mehr blendeten, sah Carsten mich plötzlich. Was er dann tat, hatte wieder mein Herz berührt und meine Gefühle für ihn weiter verwirrt. Er schnappte sich das Mikrofon und rief:
?Vicky! Wie schön, dass du hier bist!? Dann sang er à cappella mein Lieblingslied, das davon handelte, wie süß die Küsse nach einer langen Trennung sind.

Die nächtliche Aussprache dauerte bis drei Uhr in der Früh. Carsten bat mich mit seinem unwiderstehlichen Charme um Verzeihung.
?Ich habe mich so sehr über dein Geschenk gefreut. Das wolltest du doch, oder? Darüber habe ich eben Zeit und Raum vergessen. Du kennst mich ja!?
? Aber wie soll das denn zukünftig laufen, wenn wir ein Kind haben??, gab ich zu bedenken. Meinen Einwand wischte er mit der Vision zur Seite, in der ich ihn mit Kind zu den Festivals begleitete.
?Dort sind genug andere Frauen, um dir die Zeit zu vertreiben, während ich musiziere.? Er redete so lange auf mich ein, dass ich tatsächlich zum Schluss das Gefühl hatte, ich sei viel zu egoistisch.
?Du hast ja gewusst, dass mir die Musik über alles geht. Nun brauchst du dich auch nicht beschweren, wenn ich nicht jedes Wochenende bei dir sitze und Händchen halte.?
In diesem Tenor ging es weiter, bis er mir schließlich Eifersucht vorwarf- auf Frauen, die musikalischer wären als ich. Aber vor allem auf seine Leidenschaft zur Musik selbst, weil ich nicht im Stande sei mir ein gleichwertiges Hobby anzueignen. Er konnte so überzeugend reden, dass ich ihm irgendwann alles glaubte.
Psychisch und körperlich erschöpft schlief ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen gaben wir meinen Leihwagen am Flughafen München- Osnabrück ab und checkten Richtung süddeutscher Heimat ein. Die Sicherheitskontrollen gingen zügig voran. Schon bald saßen wir vor dem Gate unseres Fliegers. Hier sprachen wir kaum noch ein Wort. Carsten guckte sich auf seinem Smartphone Videos von seinem gestrigen Auftritt an. Zweimal auf der großen Showbühne und er hatte schon Starallüren. Wo sollte das bloß hin führen?
Ich war wie benommen und fürchtete unsere Rückkehr in den Alltag. Zweimal versuchte ich den Gesprächsfaden der letzten Nacht noch einmal aufzunehmen, aber Carsten wies mich unwirsch ab. Für ihn gab es nichts mehr zu klären.
Unser Flug wurde aufgerufen und Carsten und ich reihten uns in die Schlange zur Gangway ein.
Plötzlich sprach ihn eine junge Frau an. Sie schienen sich zu kennen. Als ich an seiner Schulter vorbei blickte, sah ich die bekannten roten Locken von gestern Abend. Ich hörte Sprachfetzen, die sich auf das gestrige Konzert und anscheinend auch auf die Nacht davor bezogen. Doch anstatt mich vorzustellen oder wenigstens in das Gespräch einzubeziehen, ging Carsten Seite an Seite mit der hübschen Sängerin weiter. Ihm schien es eher lieb zu sein, dass ich mich nicht als seine Lebensgefährtin zu erkennen gab. In dem engen Tunnel, der an der Bordtür mündete, drängte sich eine lärmende Schülergruppe zwischen die beiden und mich. Ich versuchte mich winkend bei Carsten bemerkbar zu machen und rief ihm hinterher, er möge bitte auf mich warten. Doch er stieg in das Flugzeug ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.
Da platze der Knoten in mir. Ich wusste auf einmal schlagartig, dass ich keinen Tag länger mit diesem egoistischen, selbstbezogenen Mann zusammen sein wollte. Gegen den nachdrängenden Strom der Menschen lief ich zurück, drückte der überraschten Hostess mein Flugticket in die Hand und rief:
?Jetzt reicht` s mir!?

Während der langen Zugfahrt zurück nach München hatte ich genug Zeit, mein impulsives Verhalten zu durchdenken. Ich kam immer wieder zu dem gleichen Schluss. Ich hatte keine Chance. Die Musik würde, leider, immer zwischen uns stehen. Einfach, weil sie bei Carsten die Nummer eins war. Ebenso würde er immer sein musikalisches Umfeld meiner Gesellschaft vorziehen. Sicher, ich hätte auch ein Instrument lernen können. Wir sollten vielleicht zusammen musizieren und die Welt bereisen. Was so romantisch klingt, hätte aber bedeutet, dass ich mich komplett verbiegen müsste. All meine Interessen wären Carstens Wünschen dauerhaft unterzuordnen. Denn, im Gegensatz zu seiner Wahrnehmung, war ich durchaus vielseitig interessiert und begeisterungsfähig. Er hatte es nur nie wahrgenommen, da es nichts mit Musik zu tun hatte.
So zog ich die schmerzhaften Konsequenzen. In einer langen Nachricht erklärte ich ihm meine Entscheidung. Ich bat ihn, sich abends für ein klärendes Gespräch Zeit zu nehmen. Wir sollten in Ruhe besprechen, wie wir im Guten auseinander gehen könnten. Als ich zu Hause eintraf, war er nicht da. Am nächsten Tag fand ich nach der Arbeit eine halb leer geräumte Wohnung vor. Ich sah Carsten nie wieder.

Heute, zwei Jahre später, freue ich mich sehr auf meine Hochzeit in drei Wochen. Ich habe einen wundervollen Mann gefunden, der sich mit mir auf eine gemeinsame Zukunft und unser Kind freut, das sich vor kurzem angekündigt hat.
Und das Beste: mein zukünftiger Ehemann ist absolut unmusikalisch!

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Donnerstag, 7. März 2019
Kapitel 2: Mokick


Unter uns, ich muss Ihnen sagen, meine Schwester ist ja nicht mein erster Trauerfall gewesen. Ich bin ja wirklich vom Schicksal gebeutelt. Das meinen meine Bekannten auch alle. Ausgerechnet so ein lieber, freundlicher Mensch wie ich muss soviel Leid ertragen. Das glauben Sie mir sicher kaum. Der erste Schicksalsschlag traf mich schon in frühester Ju-gend. In einem Alter, indem man sowieso besonders verletzlich und sensibel ist. Es war meine erste Liebe, ach was, Schwarm, würde ich rückblickend sagen. Eine Schwärmerei mit 15, als Rüdiger schon 16 war und ein Mokick fahren durfte. Er war ein toller Typ. Total cool und bei den Mädchen wie den Jungen sehr beliebt.

Ein richtiges Schwein war der! Heute würde ihm jeder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnosti-zieren. Nur du warst so blind vor hündischer Unterwürfigkeit und speichelleckender Bewunderung. Ich schäme mich heute noch für dich, wenn ich daran denke. Wie der dich behandelt hat. Wie einen Fußabtreter. Und du warst so froh, wenn er dich überhaupt nur mal beachtete. Hatte er gerade keine Mieze am Start, dann warst du für einen Fetenabend gut genug. Erbärmlich!

Ja, ich kann nicht verhehlen, dass ich stolz darauf war, dass er sich für mich interessierte. Für mich, die gerade erst ihre Zahnspange los war, ihre Einlagenschuhe gegen Klotzschen mit hohen Korkabsätzen getauscht hatte und auf die ersten Kontaktlinsen hin sparte. Es waren halt die siebziger. Wie wir damals aussahen mit unseren Schlaghosen und Travoltahemden- zum schießen. Na ja und irgendwie muss er mich ja auch gut gefunden haben, sonst hätte er ja nicht 13 Mal mit mir rumgeknutscht. Ja, ja, ich habe mitgezählt. Elf mal davon war er betrunken. Ich aber auch. Auch meine Entjungferung entstammt so einer Aktion. Ach, ich werde ganz gerührt vor sentimentalen Erinnerungen. Das war eine so schöne Zeit …

Die Zeit zwischen 14 und 16 liegt in einem nebeligen Tunnel. Die meiste Zeit war ich todunglücklich, oft bis an den Rand der Suizidgefährdung. An die Wochenenden habe ich kaum noch Erinnerung. Die erlebte ich zum größten Teil volltrunken. Und die Schulzeit? Tja, in dem Idiotenverein bin ich nicht mehr viel aufgetaucht und selbstredend in der achten Klasse sitzengeblieben. Davon habe ich mich irgendwie nicht mehr richtig erholt. Also von der Schule runter, Friseurausbildung angefangen, blah, blah, blah, Horrortrip eben …
Schuld war er. Ganz klar. Haben meine Freundinnen auch gesagt. Warum rennst du hinter dem Scheiß-haufen her? Der verarscht dich doch nur. Aber ich konnte nicht anders. Es gab keinen anderen. Er oder keiner.

Rüdiger hatte wunderschöne blaue Augen und so ein energisches, etwas vorstehendes Kinn. Sehr männlich für sein jugendliches Alter. Und er konnte so super tanzen. Voll der Discomacker. Night fever, night fever…Ich sehe ihn immer noch vor mir, wenn ich die Augen schließe. Dabei hatte er es nicht leicht. Sein Vater war wohl sehr autoritär. Es ging das Gerücht um, er hätte ihn sogar geschlagen. Das hat meine soziales Herz natürlich sofort angetriggert. Ich wollte ihm so gerne meine Liebe und absolute Loyalität beweisen. Aber irgendwie, ich weiß auch nicht warum, guckte er sich ständig nach anderen Mädchen um Dabei verstand ihn doch sowieso keine so gut wie ich. Niemand konnte so tief in seine Seele blicken wie ich.

Lustig hat er sich gemacht, der Arsch. Hat vor anderen Jungs angegeben, wie viele Finger er in mich rein gesteckt hätte. Und dass er mit mir alles machen könne, was er wolle. Ich sei ihm hörig.

Ein Junge, also um genau zu sein, mein späterer erster Ehemann, hat sich mit ihm im Gemeindehaus mal geschlagen. Ich habe leider nicht mitbekommen warum. Er hat mir später erzählt, er hätte meine „Ehre verteidigt“. So ein Quatsch. Da hatte ich ihn nicht drum gebeten. Was zwischen Rüdiger und mir gelaufen ist, war ganz alleine unsere Sache. Und wenn er irgendwas über mich erzählt hatte, war das ja nur ein Zeichen, dass ich ihm auch im Kopf rum schwirrte.

Irgendwann kippte das Ganze. Da kam ein neues Mädchen in unsere Clique und Rüdiger scharwenzelte von Anfang an um sie herrum. Ich bin bald durchgedreht. Erst wollte ich noch auf Gönnerin machen. Tolerant, verstehend, liebevoll gewährend, so auf diese Tour. Aber weißt du noch die Situation mit der Zigarette? Wir hatten ja alle nicht viel Geld; eigentlich alle nur Taschengeld als Schüler. Bis auf meinen späteren ersten Ehemann, der schon in der Ausbildung war und Lehrlingslohn bekam- Gas- Wasser- Scheiße. Na ja und Ziggis wurden eben immer geschnorrt. In alle Richtungen. Rüdiger war aber immer besonders kniepig. Und als er im Eiskaffee- ja, damals durfte man noch überall rauchen, nicht wie heute bei den ganzen Verbotsnazis- na auf jeden Fall ein paar Zigaretten verteilte, da überging er mich. Nicht, dass ich jetzt so scharf darauf war, aber die Kränkung, so vorgeführt zu werden, ließ in mir alles abwech-selnd kalt werden und heiß kochen. Zur Krönung, weil die anderen ein bisschen peinlich berührt verstumm-ten, schmiss er mir eine zu. Einfach ohne Worte, wie einem Hund ein Stück Wurst gegen die Brust. Irgendwas ging dann bei mir kaputt.

Ach, es hätte sicher noch was aus uns werden können. Aber das Schicksal schlug eben zu. Es war so tragisch und wenn ich jetzt daran denke, werde ich sofort wieder furchtbar traurig. So ein junger Mensch, in der Blüte seines Lebens. Warum lässt der liebe Gott so was zu? Ich will ja nicht blasphemisch sein. Aber so einen herzensguten, junger Mann darf es doch einfach nicht treffen, oder? Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich. Und ich ja auch, mit ihm. Unsere Kinder hätte ich Svenja und Björn genannt. Bei seinen blauen Augen war bestimmt was Schwedisches in seiner Ahnenreihe. Tja, aber so leichtsinnig, wie die Jungs in dem Alter sind, da konnte natürlich immer was passieren. Er wollte wohl besonders lässig sein. Da hat man heute, in reiferen Jahren, ja kein Verständnis mehr für. Er fuhr also mit seinem Mokick am Badesee los zum Eiswagen. Nur mit einer Badehose bekleidet. Ich hatte ihn vorher noch gewarnt und ein paar Bemerkungen zu frisierten Maschinen oder so gemacht. Ach Gott, es war so schrecklich.

Ich solle die dumme Fresse halten, hatte er mich angezischt. Aber natürlich so, dass alle, und besonders seine neue Flamme, es hören konnten. Ich hätte keine Kenne von Mopeds und solle “den Kopp zu machen“. Da war wieder das Rauschen in meinem Kopf vor brennend heißer Wut. Dass er es wagte, mich so zu erniedrigen. Vor allen anderen! Als ich hinter seinem Mokick zum Seekiosk ging, sah ich genau, dass dort Feuchtigkeit unter dem Ständer zu sehen war. Aber ich sollte ja die Fresse halten …

Die Nachricht, dass er mit dem Mokick weggerutscht und halbnackt mit dem Rücken unter den Eiswagen geprallt war, bekam ich erst abends. Meine Freundin rief bei meinen Eltern zu Hause an. Die wollten mich natürlich so spät nicht mehr ins Krankenhaus lassen, aber ich war nicht aufzuhalten. Der Mann meines Lebens war in Gefahr und brauchte mich! Nun würde er endlich erkennen, wer wirklich in der Not zu ihm stand. Ich könnte beweisen, dass ich auch noch bei ihm blieb, wenn sich alle Freunde, und vor allem das an-dere Mädchen, von ihm abgewandt hatten und wieder ihren spaßigen Interessen nachgin-gen. Ohne sich um ihren verunglückten Freund zu kümmern, einem Krüppel, vielleicht für immer querschnittsgelähmt …

Als ich ins Krankenzimmer kam, waren zu meinem Entsetzen die anderen Spacken und seine Perle auch noch da. Scheiße, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich ging also noch mal auf dem Flur und tat, als suchte ich einen Getränkeautomat oder so was. Erst als ich hörte, wie die letzten von der Nachtschwester, die jetzt ihren Dienst antrat, raus geworfen wurden, kam meine große Stunde. Ich würde ihm die Zeit vertreiben, ihn nicht in seinem Schmerz nach der Operation an dem gebrochenen Bein alleine lassen, son-dern tapfer an seinem Bett sitzen und zu ihm stehen. Dann würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen: die Frau seines Lebens. Durch Dick und Dünn, bis dass der Tod uns scheidet …

Besonders freundlich war er nicht. „Was willst du denn schon wieder hier? Du gehst mir so auf die Eier- verpiss dich endlich!“ Tja, was sollte ich dazu sagen? Ich stammelte etwas von wegen, Oma oben besucht und noch mal rein gucken. Er hatte aber anscheinend schon Schlaf- und Schmerzmittel für die Nacht bekommen. Er war schließlich gerade ganz frisch operiert worden. Also zog ich mich leise zurück.
Die Nachricht von seinem Tod in der Nacht lässt mich aber immer noch, auch nach all den Jahren, fassungslos zurück. Was hätte aus uns werden können!


"Mecklenburg Am Samstag wurde ein 16- jähriger junger Mann am Badesee
schwer verletzt, als er mit seinem Mokick, ohne entsprechende Schutzkleidung,
unter einen parkenden Wagen rutschte. Trotz umgehender Operation erlag er
in der Nacht seinen Verletzungen. Ein Bürgerbegehren fordert jetzt die Sperrung
der gefährlichen Strecke für Zweiräder am Wochenende." PC

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Mittwoch, 6. März 2019
Kapitel 1: Baggersee


Ich habe sie so gehasst. Gehasst, gehasst, gehasst. Du doch auch- gib`s doch endlich zu!

Also, wenn Sie mich so fragen: ich bin eine ganz normale 52- jährige Frau. Mit ganz normalen menschlichen Gefühlen. Klar, wir hatten nicht das beste Verhältnis, aber meine Schwester war ja auch fünf Jahre älter als ich. Das ist in Kindheit und Pubertät schon ziemlich viel. Zum Teil ein unüberbrückbarer Graben. Sie war halt anders.

Pf, anders! Alles drehte sich doch immer nur um sie. Sie war das hübsche Kind. Schöne, gleichmäßige Zähne, dicke, lockige lange Haare und tiefblaue runde Augen. Das perfekte Kindchenschema eben. Und ich? Brille, Zahnspange, Einlagen- wer guckte mich schon an?! Aber musste sie auch noch die ganze Auf-merksamkeit unserer Eltern binden, nur weil sie nicht wusste, was aus ihr werden sollte? Erst Stewardess- was sonst- dann abgebrochen und untergetaucht ins Drogenmilieu. Meine Eltern waren danach ein-fach nicht mehr für mich präsent, diese widerlichen, kleinbürgerlichen Spießer. Gebrochene Leute. Es gab mich nicht mehr für sie. Völlig egal, was ich auch anstellte, um auf mich aufmerksam zu machen, waren sie Meister in Selbstgerechtigkeit und Verdrängung.
Warum hat sie mich alleine gelassen mit den Verrückten? Warum? Ich habe es ihr nie verziehen. Niemals! Das musste sie büßen …

Meine Schwester war wirklich ein entzückendes Kind. Das muss ich neidlos anerkennen. Ich habe sie sehr bewundert und hing wie ein Hündchen an ihrer Schleppe. Heute kann ich darüber lachen. Es war ihr sicher auch lästig. Da muss man Verständnis für haben. Falls sie eigene Kinder oder Geschwister haben, dann wissen Sie ja sicher, dass ältere Geschwister mit ihren jüngeren Schwestern und Brüdern bestimmt alle mal Schabernack machen.

Schabernack? Schabernack?? Mein Gott, wie kannst du das so bagatellisieren? Oder willst du dich nicht mehr erinnern? Du bist ja schon genauso rigoros wie Mama und Papa.
Gequält hat sie mich, ausgenutzt und den Eltern zum Fraß vorgeworfen. Keins meiner Osternester hat den Ostermontag überstanden, ohne von ihr geplündert zu werden. Und wenn ich dann heulend zu Mama lief- ja mein Gott, was blieb mir denn übrig?- dann verkloppte sie mich im Treppenhaus. Und um sich vor den großen Jungs zu profilieren brachte sie mich mit zum Fußball pölen und stellte mich ins Tor! Weißt du nicht mehr, wie hart die Lederbälle in dein Gesicht klatschten, so extra fest, wie die Jungen dann drauf ballerten?

Ach, das war eigentlich eine ganz schöne Zeit, als meine Schwester noch zu Hause war. Sie müssen wissen, dass ich schreckliche Angst vor Gewitter habe. Immer noch. Aber als Kind ganz schlimm. Meine Mutter hat immer alle Stecker rausgezogen, Rollladen runtergelassen und unter den Esstisch gekrochen. Das sitzt natürlich tief. Kriege ich nicht mehr raus. Aber ist ja auch gefährlich, so ein Blitzeinschlag. Da können Sie sagen, was Sie wollen, immer wieder liest man in der Zeitung, dass Kühe oder Fußballer vom Blitz erschlagen werden. Na ja, auf jeden Fall war das der einzige Moment, in dem ich bei meiner Schwester ins Zimmer durfte. Wir haben uns auf die Fensterbank gelehnt und gezählt, wie viele Se-kunden nach dem Blitz es dauerte, bis der Donner ertönte. So viele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Wussten Sie nicht? Meine Schwester aber. Ach, ich vermisse sie so.

Du vermisst sie? Du Heuchlerin! Jahrzehntelang hat sie von Papa Unterhalt bekommen. Für` s Nichtstun. Jeden Monat 300 D- Mark für Drogen, Alkohol und ihre dämlichen Schallplatten. Die ganze Zimmerdecke war tapeziert mit Postern der langhaarigen Hardrock- Penner. Und ich? Abitur mit 1,3 geschafft, Studium in Rekordzeit, super honorierte Führungsposition, Enkelsohn und Enkeltochter durch mich bekommen … Ja, fragen Sie doch bitte meine Eltern mal was ich genau studiert habe, beziehungsweise welchem Unternehmen ich vorstehe. Da wird nicht viel kommen außer Rumgedruckse. Die Krönung war, als meine Mutter die Einladung zum Klassenfest bekam. Nein, da ginge sie doch nicht hin! Da würden ja alle damit angeben, was aus ihren Kindern alles Tolles geworden wäre. Und da könne sie ja nun mal leider nicht mitreden …

Zugegeben, ich hätte mich schon gefreut, wenn meine Eltern mehr Interesse an meinem Leben gehabt hätten. Oder mal meine Erfolge wertgeschätzt hätten. Aber meine Mutter kommt ja auch aus einer anderen Generation. Als ich mein Studium begann meinte sie, wenn ich Langeweile hätte, könne ich doch Klavier spielen. Das ist mittlerweile immer eine lustige Anekdote, wenn ich in Gesellschaften bin.

Jetzt muss ich aber gleich kotzen! Eine lustige Anekdote ist dann für dich sicher auch, dass sie dich nie besucht hat, als du ganz jung und ziemlich einsam mit deinem Neugeborenen in ihre Nähe gezogen bist. Du hast so sehr gehofft, dass sie dich wenigstens jetzt unterstützt, da du auch Mutter geworden warst. Aber sie wolle nicht „stören“ und sich nicht „aufdrängen“. Kapierst du es immer noch nicht? Du interessierst sie einfach nicht. Auch das hat dein liebes Schwesterlein dir kaputt gemacht. Als ihr Sohn geboren wurde, da rannte Mama sofort hin. Der Erstgeborene, der Stammhalter bekam den ganz großen Bahnhof. Aber auch dann wieder der Streit, Kontaktabbruch. Keinen Enkel für die Oma mehr. Finito.

Ich glaube, das hat meinen Eltern den Rest gegeben. Nicht nur die Tochter sondern auch den ersten Enkel zu verlieren, der übrigens genauso aussah wie seine Mutter als Kind, das hat sie zerbrochen. Danach haben sie dicht gemacht. Kann man es ihnen verdenken? Sie mussten sich schützen vor erneutem Schmerz. Ich verstehe das. Ich kümmere mich ja noch jede Woche um meine Eltern. Im Inneren wissen sie bestimmt, was sie an mir haben. Nur drüber reden, dass fällt ihnen eben schwer. Aber ich bin da. Ich, nicht sie. Ach lächerlich; das ist ja hier kein Wettbewerb. Oje, was müssen Sie jetzt von mir denken. Wie kindisch.

Ach du kapierst es einfach nicht. Egal. Ich musste einfach die Konsequenzen ziehen. Es wäre doch sonst immer so weiter gegangen! Und Mama und Papa werden ja auch nicht jünger. Unterhalt für sie ist eine Sache, aber das halbe Erbe abgeben? Ja von wegen! Um nichts und niemanden hat sie sich je gekümmert, außer um sich selbst. Ihre Eltern ausgenutzt, ihr Kind im Stich gelassen und mich verlassen, aber Kohle abkassieren, ja von wegen. Mein ganzes Leben lang war ich Papas Ersatz; für sie und für Mama. Haus in Ordnung halten, Garten pflegen, Versicherungen abschließen, Steuererklärungen machen, mit Mietern verhandeln; alles meine Aufgabe. Da bin ich nicht gefragt worden: Nein, das war selbstverständlich. Und die ganze Zeit habe ich gehofft. Gehofft auf ein Wort der Anerkennung, der Bestätigung , der Dankbarkeit. Auf ein Zeichen, das ICH die gute Tochter bin. Ich war doch immer da! Ich habe doch alles gemacht! Ich werde verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass sie dann die Hälfte erben sollte. Nur über meine …Also, was ich sagen will: es gibt ja doch noch so was wie Gerechtigkeit im Leben, oder etwa nicht? Na sag schon. Du bist doch der Moralapostel, der Mutmensch und schlauste Schlaumeier unter der Sonne…

Also ich sag mal so: als es mit dem Drogenkonsum immer heftiger wurde und ich dafür sorgen musste, dass man ihr das Kind weg nahm, da war mir auch klar, das unsere Beziehung nicht mehr zu kitten war. Aber man hat ja Verantwortung als Familie. Die nächste Stufe bergab war dann die Obdachlosigkeit. Aber ich habe da nicht mehr eingesehen, dass mein Vater immer weiter die Miete für die zahlte. Das ging ja schließlich letztendlich auch alles von meinem späteren Vermögen ab. Das hätten Sie doch auch gelöscht, wenn sie die Kontovollmacht Ihrer Eltern bekommen hätten, oder? Also den Dauerauftrag löschen, meine ich. Sie hätte ja dadurch auch gezwungen werden können, mal endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Das hätte ja auch eine Wendung in die richtige Richtung sein können! Stattdessen stand sie eines Tages vor der unserer Eltern. Es fehlte ihr ein Schneidezahn! Ihr, dem Mädchen mit den schönen Zähnen! Das hat mich so geschockt, dass ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen habe. Zum Glück war ich gerade da, so dass meine Eltern das Elend nicht mit ansehen mussten. Gott sei dank konnte ich sie wieder mal schützen.

Sie hat mir dann noch einen Brief geschrieben. Einen Bettelbrief. Abstoßend. Das war nicht mehr meine Schwester. Sie wollte Geld. Die Drogen sollte ich ihr auch noch besorgen. So eine Unverschämtheit! Na ja, wir trafen uns dann noch einmal am Baggersee. Ihre ganze abgeranzte Clique war schon völlig zugedröhnt. Ich habe ihr dann ein bisschen was gegeben …

Gut, den Tod habe ich ihr natürlich nicht gewünscht! Blut ist ja immer noch dicker als Wasser. Und ich habe ja keine anderen Geschwister. Aber vielleicht ist es ja besser so für sie. Das war ja kein wertvolles Leben mehr. Und für unsere Eltern ist es bestimmt auch besser, sich nicht weiter zu quälen mit unerfüllbaren Hoffnungen. Irgendwann lässt deren Schmerz nach. Und dann sehen sie endlich, was sie an mir haben. Ach das wird schön!


"Mecklenburg Am Samstag wurde im Baggersee die Leiche einer 57- jährigen Frau
gefunden. Die Obduktion ergab, dass sie auf Grund einer massiven Überdosis eines
Drogencocktails einen Herzstillstand erlitt und ertrank. Die näheren Umstände konnten
nicht geklärt werden, da sich außer der Toten nur weitere Obdachlose in der Nähe befanden,
die ebenfalls unter extremem Einfluss von Betäubungsmitteln, Alkohol und weiteren Drogen
standen."

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SPRINT


Jetzt war es aber ganz deutlich zu hören. Sie war doch nicht meschugge. Da, schon wieder. Oh Gott, das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte extra so lange gewartet. Alle Parameter waren erfüllt gewesen: gründliche Recherche, perfektes Timing. Und trotzdem sollte das nicht gereicht haben?
Im Schutz der kleinen schattigen Nische, die der Vorsprung der rauen Betonwand bildete, machte sie kurz Pause um zu lauschen. Sie presste sich so flach es ging an die kalte Wand. Ihr Herz hämmerte. Durch tiefes Einatmen versuchte sie es zu beruhigen. Das Blut rauschte wie eine Wildwasserbahn in ihren Ohren. So laut, dass sie die feinen Geräusche der Umgebung gar nicht richtig hören konnte. Das durfte nicht sein. Das war fatal!
Ihr wurde schwindelig. Zu sehr konzentrierte sie sich darauf möglichst viel Luft in ihre Lungen zu saugen und anschließend, so langsam und leise es ging, wieder entweichen zu lassen. Die Umrisse der Feuerschutztür vor ihr verschwammen. Verdammt!
Wenn sie es doch nur schaffte, sie ohne quietschendes Geräusch in den Angeln zu öffnen und durch zu huschen. Dann hätte sie fast die Hälfte geschafft.
Oh nein! Jetzt sah sie von hinten den eindeutigen Schein der roten Ampelanlage, die aufleuchtete, sobald das Rolltor von außen geöffnet wurde. Es kam jemand. Ganz klar. Es war gleich jemand hier drin.
Zurück? Sollte sie schnell wieder in den halbdunklen Gang laufen, den sie gerade auf ihren leisen Sneakersohlen durchquert hatte? Mucksmäuschenstill und mit heißem Atem die ganze Strecke von vorne? Mist- mindestens sieben Minuten umsonst. Fünf Minuten davon fielen schon in die gefährlichste Zeit. Sie hatte es ganz genau ausgerechnet. Wieder und wieder. Sie hätte heulen können vor Wut und Enttäuschung. Aber vor allem Angst, diese luftabschnürende, schneidende allesumfassende Angst.
Also Flucht nach vorne. Schnell, bevor das Rolltor sich öffnete und jemand hereinfuhr.
Mist, ihr Anhänger am Schlüsselbund klackerte an die silberne Schnalle ihres Taschengurtes. Sie dämliche Kuh- blöd, blöd, blöd! Sie hatte sich schon vor Monaten extra angewöhnt die Tasche links und die Schlüssel in der rechten Hand zu halten. Damit sie ganz schnell aufschließen konnte aber eben auch, damit sie eben nicht durch das Geräusch auf sich aufmerksam machte. Sie dumme Kuh, unbelehrbar, unfähig, leichtsinnig. Sie hatte es ja gar nicht besser verdient, war selber schuld. Sie hätte kotzen können vor so viel Dummheit.
Ihre selbstzerfleischenden Vorwürfe und Schuldzuweisungen halfen nichts. Das wusste sie schon lange. Aber diese zweite, innere Stimme, die sie hörte, konnte sie nicht abstellen.
Sie musste trotzdem weiter. Der Rückweg war jetzt definitiv versperrt. Sie hatte zu lange gewartet. Nun hörte sie schon die schmatzenden Geräusche der Autoreifen und anschließend das ploppende Zuschlagen einer Autotür.
Sie hatte zu lange gezögert. Mal wieder unfähig, sich zu entscheiden, hatte sie vielleicht gleich einen hohen Preis für ihre Unschlüssigkeit zu zahlen. Aber sie war immer noch gelähmt vor Entsetzen. Sie hatte in ihrer detaillierten Planung jemanden außer Acht gelassen. Irgendeine Komponente hatte sie übersehen. Wie war das möglich? Dies hatte oberste Priorität gehabt. Seit Monaten beschäftigte sie sich kaum mit etwas anderem. Es war doch so wichtig für sie. So elementar für ihr Leben. Sie wollte nicht so weitermachen, sie konnte es nicht ertragen. Sollte ihr Plan versagen, konnte sie für nichts mehr garantieren. Sie würde das nicht länger aushalten, nicht ertragen. Ja, es war klar: sie würde so nicht mehr weiterleben wollen!
Bei der Erkenntnis, wie wahr ihre Gedanken, die sie das erste Mal so ehrlich zugelassen hatte, waren, drückten die Tränen in der Kehle und hinter den Augenlidern.
Warum? Warum, warum, warum war es so weit mit ihr gekommen? Eine Welle des Selbstmitleids drohte sie zu überschwemmen. Und wenn sie doch aufgab? Sich dem Lauf der Dinge hingab und auslieferte? Wäre das nicht einfacher? Sie hatte keine Kraft mehr …
Da, Schritte! Sie kamen immer näher. Waren schon fast vor der Eingangstür. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, sich zu retten: vorbei an den Waschküchen, die nächste Zwischentür sanft ins Schloss schnappen lassen, die Rampe hoch schleichen, ohne auf die scheppernde Metallschiene zu treten. Ja, das müsste klappen. Oh Gott sei Dank, noch vier, fünf Meter …
Auf einmal Stimmen. Stimmen von rechts. Mann? Frau? Ein Paar. Ihr wurde schlecht vom Schock. Das hatte sie nicht erwartet. Jetzt, an dieser Stelle nicht mehr. Ihre ganzen mühevollen Planungen- zunichte gemacht. Sollte es ihr nicht gelingen die Nebentür zu passieren, bevor sie ganz aufgezogen wurde, war sie verloren. Dann gab es keine Rettung mehr. Aus. Vorbei.
Zu ihrem Entsetzen sah sie jetzt, dass die Tür schon halb aufgeschoben worden war.
Der Rückweg aber auch versperrt. Dem Nachkommenden würde sie genau in die Arme laufen. Es gab keine Nische, keinen Raum, keinen abzweigenden Gang mehr dazwischen. Wie ein gehetztes Reh, ein getriebener Fuchs. Freiwild, das zum Vergnügen in die Enge getrieben wurde.
Sie musste zum Äußersten greifen. Es gab keine Alternative. Sie riss sich ein allerletztes Mal zusammen und betrat den Fahrstuhl. Todesmutig drückte sie den Knopf und das Gefährt setzte sich wackelig in Bewegung. Erleichterung? Nein, nicht in diesem stickigen Kasten. Die eine Hälfte der schummerigen Deckenspots war dunkel, die anderen flackerten lustlos.
Sie betrachtete sich in dem matten, fleckigen Wandspiegel und erschrak: die Augen dunkel vor Angst, die Wimperntusche verschmiert von den vergeblich zurückgedrängten Tränen. Ihre Haut glänzte ihr fettig und schwitzend entgegen. Sie lehnte ihre heiße Stirn gegen das Spiegelglas und gönnte sich eine kurze Atempause.
Normalerweise wäre sie für kein Geld der Welt in einen Aufzug gestiegen. Jedoch die Vorstellung, wer und was ihr im Treppenhaus alles begegnen konnte, ließen ihr keine Wahl. So empfand sie den engen, fast luftleeren Raum ausnahmsweise als schützenden Käfig.
Eine erneute Schrecksekunde als nach einem heftigen Ruck die Fahrstuhltür auf rumpelte. Würde jemand davorstehen? Was dann? Konnte sie die elektronische Tür so schnell wieder zu bekommen, dass es dem Wartenden nicht gelang zu ihr einzudringen? Oder gelänge es ihr sich mit Schwung an ihm vorbei zu drängeln. Ganz schnell, den Überraschungsmoment nutzen. Wäre es überhaupt überraschend oder wurde ihr schon aufgelauert? Na klar, sie musste damit rechnen.
Sie umfasse fest ihren Schlüsselbund und ließ nur den langen spitzen Wohnungsschlüssel wie ein kleines Messer heraus ragen. Fertig zum Einsatz. Sie würde keine Sekunde zögern und ihn sofort einsetzen. Ohne Skrupel, ohne Bedauern.
Oh bitte lieber Gott, bitte, bitte! Jetzt setze sie alles auf eine Karte. Sie quetschte sich, kaum, dass die Tür zu einem Drittel zur Seite geglitten war, heraus. Gebeugt, aber mit Schwung nach vorne drängend. Ohne nach links und rechts zu sehen stürmte sie zur gegenüberliegenden Tür, fummelte kopflos den Schlüssel ins Schloss, warf sich dagegen, torkelte in ihren Windfang und donnerte die Tür mit letzter Kraft von innen zu.

Gerettet! Wieder einmal hatte sie den Weg von der Tiefgarage in ihre Wohnung geschafft, ohne von einem ihrer nervigen Nachbarn angequatscht zu werden.

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Der blaue Turban


Sollte sie richtig satte, irischrote Haare haben, wäre sie fällig. Oder wenigstens so helle rotblonde, erdbeerblond nannte man das wohl. Bei dem Gedanken an langes, seidiges Haar, das sich auf ihren Rücken ergießen könnte, sobald sie den blauen Turban abnahm, spürte er wie sich endlich einmal wieder etwas regte in seinem Schritt.

Es war lange her, dass ihn eines der Mädchen erregt hatte, die er jahrelang in der Grundschule gegenüber unauffällig beobachten konnte. Als Hausmeister war das ein Schlaraffenland für ihn gewesen. Nun hatten die Vollidioten von der Stadtverwaltung das schöne klassizistische Gebäude in eine Wohnanlage verwandelt. Er hatte sie dafür gehasst. Seinen Job hatte verloren. Aber schlimmer noch war die Leere, die durch das Ausbleiben der kleinen Mädchen entstanden war. Sein Lebensglück - die kleinen Dinger, von denen er jeden Vormittag auf dem Pausenhof, in den Klassenzimmern, aber vor allem im Milchkeller umgeben war.
Vor allem die Rothaarigen, die hatten es ihm ganz besonders angetan. Bei denen musste er immer hart schlucken und sich zusammenreißen, um auf den richtigen Moment zu warten. Dieses kühle, weiche Gefühl auf seinem nackten Bauch. Der Griff in den dichten Hinterkopf, auf dem golden das Kellerlicht reflektierte …

Und nun dieser blaue Turban gegenüber. Sein Fernglas zeigte ihm schwimmbadblauen Frottee, eine blasse sommergesprosste Haut. Ein Haaransatz war nie zu erkennen. Er sah nun schon seit 12 Tagen hinüber. Seit sie in die Wohnung gezogen war, stand sie jeden Morgen mit ihrem Turban und einer Tasse in den Händen auf dem Balkon. Vorgestern hatte er sich beim Hausverwalter gemeldet und seine Dienste als Hausmeister erneut angeboten. Er musste irgendwie eine Legimitation für die Tiefgarage bekommen. Die Stellplätze waren sofort alle für enorme Summen vermietet worden. Das kam für ihn mit dem bisschen „Stütze“ nicht in Frage. Also wieder der graue Kittel. Besser ging es nicht. In dem war er für die Bewohner solange unsichtbar, bis sie sich über irgendetwas beschweren wollten. Ansonsten existierte er nicht für die feinen Herrschaften.
Der blaue Turban hatte Stellplatz Nummer 32. Das hatte er schon rausgefunden, als er sich einen halben Tag vor dem Tor herum gedrückt hatte. Flink wie ein Wiesel hatte er sich im Schatten der Einfahrt schnell unter dem zurollenden Tor durchgedrückt. Niemand hatte ihn bemerkt. In aller Ruhe hatte er sich das ganze Untergeschoss ansehen können- das Parkdeck, Fahrradkeller, Waschküchen. Alles war noch im Rohzustand, staubig und nur provisorisch beleuchtet. Im Fahrradkeller hingen bis jetzt nur die rohen Stromleitungen von der Decke. Etwas diffuses Licht schien durch das dreckige Kellerfenster. In der Ecke war noch ein Kabuff abgeteilt, hier stapelten sich benutzte Malervliese. Perfekt, hier würde er es machen.
Nachdem er gehört hatte wie eine Autotür ins Schloss geschnappt war und sich klackernde Schritte hastig in Richtung Treppenhaus entfernten, linste er schnell um die Ecke. Er sah, dass ihr Auto auch badezimmerblau war. Die tickte nicht richtig, die Tante. So viel Kohle, um sich hier eine Wohnung zu leisten und dann so einen grottenschlechten Geschmack.

Er erinnerte sich an die Kleine mit dem Schwammkopftornister. Sie war die zweite, bei der er sich nicht hatte beherrschen können. Sie war die einzige, die sie bis jetzt nicht gefunden hatten. Stimmt, die war ihm auch aufgefallen, weil ihr Ranzen so quietscheblau war. Nicht rosa oder pink, wie bei allen anderen Mädchen. Anscheinend fixte ihn die Farbe blau an. Die roten Haare waren gar nicht die Initialzündung. Super Selbstreflexion- er musste in sich hinein grinsen. Seine Selbsthilfegruppe mit den ganzen kranken, perversen Spackos wäre beeindruckt gewesen.
Aber tatsächlich, wenn er mal alle Mädchen Revue passieren ließ, die ihm Vergnügen bereiten mussten, dann waren da auch brünette, blonde und schwarzhaarige dabei gewesen. Sogar eine kleine Türkenmaus, oder anderer Kanaken Brut. Die Fatimahand an ihrer Halskette, war ihm aufgefallen. In der Mitte der Handfläche ein kobaltblaues Auge. Das dritte Auge, brrr, wie gruselig. Das hatte ihn gereizt. Er hatte das Gefühl, als stiere dieses blaue Auge ihm unablässig nach. Er hatte sich von ihrem dritten Auge eindeutig beobachtet und provoziert gefühlt. Als hätte sie etwas Böses. Nun, letztendlich hatte sie ihm auch tatsächlich heftig in den Schwanz gebissen, mit ihren kleinen scharfen Milchzähnen. Na ja, die biss nie wieder jemanden …
Die Allererste, das wusste er noch genau, hatte ihn mit ihren blau getünchten Augendeckeln betört. Im vierten Schuljahr, das muss man sich mal vorstellen. Was denken die Eltern sich denn auch dabei, ihre Kinder so loszuschicken. Selber Schuld. Diese nuttige Farbe des Lidschattens kannte er. Seine Mutter hatte genau den gleichen aufgelegt als er noch sehr klein war. Immer, wenn sie ihn abends alleine ließ, um in den Bars der Stadt nach potentiellen Stechern Ausschau zu halten, pinselte sie sich die Visage mit dem billigsten, grellsten Make-up zu. Wahrscheinlich auch besser so- die Hübscheste war sie nämlich nie gewesen, das hellste Licht am Christbaum leider auch nicht.
Die beiden Müllsäcke, in denen er die Kleine entsorgt hatte, hatten witzigerweise den gleichen Blauton, wie der Lidschatten. Wie passend, mülltütenblau. Er musste jetzt noch kichern, wenn er an den Moment dachte, als es ihm auffiel.

Für erwachsene Frauen hatte er sich nie erwärmen können. Zu anstrengend, zu riskant, wahrscheinlich auch zu viel Gegenwehr. Aber so kleine zierliche, oft eben rothaarige Frauen, die hatten schon noch etwas Mädchenhaftes, dass ihn anmachte. Und eigentlich ging es ihm ja vor allem um die Haare selbst. Um die Struktur. Lange Haare am liebsten, wenigstens schulterlang. Haare, die sich anfühlten wie das Fell eines Cockerspaniels oder Angorakaninchens. Eine Mähne, die sich auf seinem Unterbauch und Geschlecht ergoss, die weich und zärtlich war.

Er schloss einen Deal mit sich ab: sollte die Frau rothaarig sein- o. k.- er war ja auch nur ein Mann. Dann würde er sein Glück versuchen. Es wäre ja auch zu einfach bei ihr. Seit Tagen recherchierte er ihre immer gleichen Abläufe. Das morgendliche Ritual auf dem Balkon. Das Zurschaustellen ihres blauen Turbans in der aufgehenden Sonne, die Hände um den Kaffeebecher geschlungen.
Moment, er zoomte den Becher näher an sich heran. Blauweiß- Schalke 04, ha, wie lächerlich. Schon dafür alleine hätte sie Strafe verdient. Das würde ihm ja niemand glauben, wenn er es irgendjemandem erzählen würde. Aber das durfte er natürlich nicht.
Einmal hatte er versucht sich jemandem anzuvertrauen. Sie war in der Gruppe „Sucht“ gewesen, ein Raum weiter als seine Veranstaltungen. Dicke, krause Locken, ziemlich struppig. Nicht, wie er es gerne hatte. Sexuell regte sich da gar nichts bei ihm. Sie hätte schon gewollt. Die Signale waren eindeutig. Häufiges, unmotiviertes Berühren seines Arms beim Gespräch war noch das Harmloseste. Aber er wollte reden. Er hätte sich einmal im Leben jemanden gewünscht, der ihm zugehörte. Aber auch sie wollte nur ihren eigenen Senf loswerden, sich ausschließlich um ihr eigenes Universum kreisen. Eine Riesenenttäuschung war sie gewesen. Die letzte, dafür würde er sorgen.
Bis auf diesen Drang, diese unstillbare Unruhe, kam er nämlich sehr gut allein zurecht. Er von niemandem anhängig. Keiner konnte ihm mehr reinreden, wie seine Mutter, die Xanthippe. Das Weib hatte er auch gehasst. Ach, sie waren doch alle gleich. Der blaue Turban hatte sich auch schon mit den armen Handwerkern angelegt. Er hatte es mitgekriegt, als er die Klingelschilder am Haupteingang nach ihrem Namen überprüfte. Fast hätte er sich eingemischt, ihr seine Hilfe für die Kellerbeleuchtung angeboten. Aber im letzten Augenblick besann er sich und blieb in seiner Deckung. Niemand durfte ihn später mit ihr in Verbindung bringen. Das wäre fatal. Aber zickig war die kleine Hexe, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt. Sie würde sich bestimmt wehren, kratzen, beißen. Hauptsache nicht schreien. Aber das zu verhindern, darin hatte er ja schon Erfahrung. Sofort was ins Maul schieben. Ganz weit, bis zum Rachen. Dann hatten sie erstmal genug damit zu tun zu atmen. Er freute sich schon auf das Geräusch. Das machte ihn fast genauso an, wie der Gedanke an die Haare. Das Röcheln und den damit verbundenen vermehrten Speichelfluss waren ziemlich geil.
Aber die Haare, immer wieder die Haare! Vielleicht waren sie ja so lang, dass er sie richtig um seinen Schwanz wickeln konnte. Oder um ihren eigenen Hals. Ja, das wäre krass. So lang waren die bei den kleinen Mädchen nie gewesen. Aber unter dem blauen Turban könnten sich schon eine Menge Haare verbergen. Warum sollte sie ihn sich sonst jeden Morgen umbinden, bevor sie auf den Balkon ging? Sie würde sich morgens unter der Dusche die Haare waschen und den Körper einseifen. Besonders an den Brüsten würde sie verweilen und natürlich bei ihrer Muschi. Seifen, seifen, seifen … bis alles schön glitschig war.

Schluss jetzt! Er musste aufhören zu träumen und in die Planungsphase gehen. Also übermorgen wäre ja das
Vorstellungsgespräch in der Wohnanlage. Unten im Büro, seiner ehemaligen Hausmeisterstube, sollte er klingeln. Entweder würde ihm jemand die Haustür öffnen, dann müsste er das demütigende Gespräch über sich ergehen lassen. Oder die Türöffneranlage funktionierte endlich. Dann könnte er einfach rein gehen und sich im Fahrradkeller verstecken, bis sie in die Tiefgarage gefahren kam. Und dann gab es unzählige Möglichkeiten. Er konnte sich kaum entscheiden wo und wie er es machen würde. Fast tat es ihm Leid, das er sie nur einmal benutzen konnte. Es war ja noch ein bisschen Zeit bis dahin, aber Vorfreude war ja bekanntlich die schönste Freude.
Heute würde er sie nicht mehr sehen, das wusste er. Ihren Zeitplan kannte er ja nun genau. Zwar hatte er seine Beobachtungszeiten auf ihren Aufenthalt in der Wohnung abgestimmt, aber wenn sie heute heim kam, war er beim Doc zur Spritze. Danach waren die Rollos runter. Pech gehabt.
Aber morgen. Morgen früh würde er sich schon ganz früh den Wecker stellen, sein Fernglas in Position bringen und jede Bewegung des blauen Turbans auf dem Balkon auskosten. Mit diesem erregenden Gedanken schlüpfte er unter seine warme Decke.

Guten Morgen! Was für ein wunderbarer Tag. Die Sonne lugte schon halb an der gegenüberliegenden Hauswand vorbei auf ihren Balkon. Noch war die Balkontür zu. Er hatte wundervoll geschlafen. Nachdem er sich noch richtig schön entspannt hatte, war er in einen aufregenden, heißen Traum hinüber geglitten. Er sah Münder, die sich zum stummen Schrei öffneten, nasse Augen, die sich röteten, blaue Flecken an Kehlen, aber vor allem Haare. Haare, die sich aus dem blauen Turban befreiten und in wallenden Kaskaden herab flossen. Haare, die sich schmeichelnd über sein Gesicht legten. Duftend, kühl und weich lagen sie wie Matten aus Seide unter ihm, während es ihn überkam.
Heute war es endlich so weit. Heute war der Tag, an dem sich sein Traum erfüllen würde. Sie hatte ihn lange genug gereizt, gefoppt, ja eigentlich betrogen um den fantastischen Anblick, den der blaue Turban verhinderte. Der Plan stand fest. Es konnte nichts mehr schief gehen. Er beglückwünschte sich für seine Entscheidung und seinen Mut. Ja, er war ein richtiger Mann. Entschlossen und entscheidungsstark setze er seine Pläne in die Tat um. Er war nämlich doch etwas Wert!
Da, nun ging es los. Die Vorhänge hinter der Balkontür bewegten sich. Sie öffnete die Tür und trat ans Geländer. Das grelle Blau des Turbans schien ihn zu verhöhnen.
Irgendetwas aber war anders als sonst! Ihr Bademantel, den sie sonst jeden Morgen trug, fehlte. Ja, tatsächlich, sie war schon angezogen. Sie hatte ein angeberisches Businesskostüm mit Blazer und Bleistiftrock an, diese arrogante Schlampe. Sie war auch schon geschminkt. Er erkannte mit dem Fernglas einen fiesen grellen Lippenstift. Na egal, den würde er ihr schon runterwischen. Sie schien es sehr eilig zu haben. Sie hatte keinen Kaffeebecher dabei. Nein, jetzt sah er, dass sie sogar ihre Aktentasche schon unter dem Arm hatte und aus ihr ein Handy zog. Mmh, Hauptsache, sie brachte den Zeitplan für ihr gemeinsames Tete à Tete heute Nachmittag nicht durcheinander, mit ihrem frühen Aufbruch. Denn heute war sie fällig, da gab es kein Zurück mehr. Heute würde er sie in der Tiefgarage abpassen, in das Kabuff des Fahrradkellers ziehen und sich über sie hermachen. Zuerst würde er sie an den Haaren packen, oh diese herrlichen, göttlichen Haare, der Schmuck der Frauen …

Moment, was war das? Sie legte kurz das Handy auf den Plastiktisch. Anscheinend gelang es ihr nicht, den Apparat zwischen Turban und Ohr zu schieben. Die beugte den Kopf vor, umfasste mit beiden Händen das blaue Frotteetuch, um es zu lösen. Sein Herz schlug wild und hart gegen Brust und Hals. Bei der Vorstellung, wie sie gleich ihr Haar befreite und endlich zu erkennen gab, was sich genau unter dem blauen Turban verbarg, spürte er auch ein pulsierendes Klopfen in seinem Gemächt. Gemächt, was für ein mächtiges Wort.
Jetzt. Jetzt war es gleich soweit. Was hoffte er? Rot, blond, Locken, glattes Haar? Ach, wenn er ehrlich war, war es ihm schon lange ganz egal. Die Farbe des fließenden Haarmantels würde er in dem finsteren Keller sowieso nicht erkennen können. Er wollte nur das geschmeidige Gefühl auf seiner nackten Haut.
Er tauschte das Fernrohr gegen seinen Fotoapparat aus, mit dem er auch diese Trophäe vor der Tat festhalten wollte. Vor Erregung und Ungeduld zitternd, verlor er ihr Bild einen Moment aus dem Zentrum der Linse.
Ruhig jetzt. Ganz ruhig und besonnen. Keinen Fehler machen. Er war nach so langer Zeit mal wieder am Ziel seiner Wünsche. Er hielt die Luft. Und genau in dem Augenblick, als er sie wieder voll zentriert betrachten konnte, schob sie mit Schwung den blauen Turban von ihrem Kopf.
Sie war kahl.

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