Donnerstag, 14. März 2019
STERBEHILFE: Darf mein Vater das von mir verlangen?


Barbara M.; (42):
Als mein Vater mit 74 Jahren unheilbar krank wurde, hatte er nur noch eine Bitte: ich sollte ihn in eine Sterbehilfe- Klinik in der Schweiz bringen. Dieser Wunsch stürzte mich in große Gewissenskonflikte. Die moralischen Bedenken meiner Freunde und der Widerstand meiner Mutter machten die Entscheidung noch schwieriger ?
*
?Können Sie uns bitte ein aktuelles Foto Ihres Vaters faxen?? Die Stimme des Polizeibeamten am Telefon war ruhig und sachlich. Dennoch durchfuhr mich ein eisiger Schreck. Mein Vater war bei einer Nacht- und Nebelaktion aus der Universitätsklinik entwichen. Das Pflegepersonal hatte rekonstruiert, dass er einen Schreibtischstuhl mit Rädern aus dem Arztzimmer entwendet hatte, um seine Reisetasche damit zu transportieren. Ein aufmerksamer Taxifahrer hatte dann der Polizei gemeldet, dass ein älterer Herr einen Bürostuhl mit Tasche Richtung Bahnhof schieben würde. Nun machten die Beamten sich auf die Suche und wollten mit Hilfe des Fotos auch die Bevölkerung aufrufen, nach meinem Vater Ausschau zu halten.
Für meine Mutter und mich war das Ganze ein Alptraum. Vor circa sechs Monaten hatte mein Vater die niederschmetternde Diagnose erhalten, dass er an der unheilbaren Krankheit ALS (Amyotrophische Lateralsklerose) litt. Bei dieser Erkrankung kam es zu Schädigungen der Nervenzellen, die für die Muskulatur verantwortlich waren. Und zwar unwiderruflich und unweigerlich zum Tode führend. Nachdem er seine Finger und Arme kaum noch bewegen konnte, war zuletzt auch die Mundmuskulatur befallen. Mein Vater war kaum noch in der Lage sich zu artikulieren. Für einen so stolzen und unabhängigen Mann wie ihn, sicher ein unerträglicher Zustand. Die Ärzte hatten ihm noch ungefähr ein bis eineinhalb Jahre gegeben. Allerdings war diese Krankheit noch wenig erforscht. Sie überwiesen meinen Vater also in die Uniklinik zu weiteren Tests und Untersuchungen. Ich hatte von Anfang an das deutliche Gefühl, dass mein Vater die ganzen medizinischen Behandlungen eher meiner Mutter zuliebe über sich ergehen ließ. Sie konnte das drohende Ende ihres geliebten Ehemannes nicht akzeptieren. Ständig kam sie mit neuen Erkenntnissen von ihrem Arzt oder Bekannten zurück und drängte ihn, noch dieses und jenes Medikament einzunehmen. Mein Vater machte alles geduldig mit. Aber wenn er mich anblickte, sah ich in seinen Augen, dass er sich innerlich mit dem Tod zu arrangieren begann. Ich hätte gerne mit ihm alles besprochen, wozu meine Mutter nicht in der Lage war. Allerdings wurde unsere Kommunikation immer schwieriger. Außer Nicken und Kopfschütteln war an schlechten Tagen nicht mehr viel möglich.
Eines Tages hatte ich eine Idee. Ich kaufte ein Kinderspielzeug, das aus Holzwürfeln bestand, die mit Buchstaben bedruckt waren. Damit konnte man Kleinkindern Buchstaben und Wörter beibringen. Es brach mir fast das Herz, meinem Vater so etwas zuzumuten. Er war immer so stolz auf seine Bildung gewesen und bis ins hohe Alter sehr belesen. Aber ich musste es wagen. Es war wichtig, dass mein Vater die Gelegenheit bekam seine Gedanken und Wünsche auszudrücken. Unter Tränen packte ich die Würfel aus und erklärte meinem Vater die Funktion.
?Wie kannst du es wagen, Papa so zu beschämen??, brach es aus meiner Mutter heraus. Peinlich berührt wischte sie die Würfel vom Tisch. Mit roten Wangen und einem heißen Knoten im Magen begann ich die Buchstaben einzusammeln. Ich wagte es kaum meinen Vater anzusehen. Er war doch immer mein Held gewesen und nun war er nur noch ein Häufchen Elend. Ich wollte ihn ganz sicher nicht wie ein unmündiges Kind behandeln, aber was sollte ich tun? Da sah ich aus den Augenwinkeln, wie mein Vater nach einigen Würfeln griff. Mit viel Mühe, da die Muskeln seiner Finger sich ja auch schon zurück gebildet hatten, fing er an, Worte aus den Buchstaben zusammen zu legen.
`Feld bestellen`, stand dort. Ratlos sah ich meine Mutter an. Sie zuckte jedoch auch nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Mein Vater war nie in der Landwirtschaft tätig gewesen, sondern als kaufmännischer Angestellter. Ich grübelte über den Sinn seiner Worte nach. Wenn ich ihn jetzt frustrieren würde, weil ich nicht verstand, was er mir sagen wollte, würde er die Würfel sicherlich nie wieder benutzen. Ich zermarterte mir den Kopf und stellte noch ein paar Fragen. Plötzlich fiel mir ein, dass mein Großvater den Ausdruck `sein Feld bestellen` verwendet hatte, im Sinne von `seine Dinge regeln`. Mit tränenerstickter Stimme fragte ich ihn:
?Willst du deine Dinge regeln? Papa, glaubst du, dass du bald stirbst?? Es hatte mich ungeheure Überwindung gekostet, diese unfassbaren Worte deutlich auszusprechen. Aber war es nicht das, was meinem Vater jetzt als einziges in seiner Not helfen konnte. Jemand, der seine Ängste Ernst nahm und sich nicht scheute die schmerzhafte Wahrheit beim Namen zu nennen?
?Barbara! Was ist denn in dich gefahren??, schrie meine Mutter auf. ?Wie kannst du denn so etwas sagen?? Beschwichtigend wandte sie sich meinem Vater zu:
?Das meint sie nicht so, Walter. Du weißt ja, was sie für ein loses Mundwerk hat. Sie hat nicht richtig nachgedacht, bevor sie geredet hat. Alles wird wieder gut ...?
Aber mein Vater hörte ihr gar nicht zu. Er umfasste meine Hand mit seinen dünn gewordenen Fingern und nickte mit dem Kopf. ?Will sterben?, artikulierte er mühevoll.

Die Situation überforderte mich. Im Nachhinein glaube ich, das war auch der Grund, warum ich ein paar Tage den Kontakt zu meinen Eltern vermied und Arbeit vorschützte. Ich war ja keine professionelle Sterbebegleiterin. Wie sollte ich denn mit meinem eigenen Kummer umgehen und gleichzeitig meinen Eltern eine Stütze sein. Mal wieder bedauerte ich keine Geschwister zu haben. Wie schön musste es sein, sich mit Brüdern oder Schwestern beraten und austauschen zu können. Wie viel leichter wäre es gewesen, den Schmerz um den geliebten Vater teilen zu können. Aber alles Bedauern half nichts. Ich musste mich der Aufgabe stellen. Und so besuchte ich mein Elternhaus wieder regelmäßig. Anfangs glaubte ich noch, mein Vater wollte mit seinem Wunsch nach Sterben zum Ausdruck bringen, das er keine Hoffnung mehr auf Heilung hätte. Ich signalisierte ihm mein Verständnis und versprach, ihn mit seinen Befürchtungen ernst zu nehmen. Anders als meine Mutter, weigerte ich mich seinen Zustand weiter zu bagatellisieren. Das nahm er dankbar zur Kenntnis. Wie schrecklich musste es sein, angesichts des Todes, nur von Menschen umgeben zu sein, die kein Verständnis oder Einfühlungsvermögen aufbrachten. Meine Mutter meinte es sicher gut. Aber sie war mit ihren fast siebzig Jahren emotional einfach nicht in der Lage, sich mit meinem Vater über seinen beängstigenden Gesundheitszustand auseinander zu setzen. Zu schmerzlich war wohl der drohende Abschied von ihrem jahrzehntelangen Weggefährten. Also war ich in der Verantwortung, den Kopf nicht in den Sand zu stecken und meinem Vater auf dem letzten Stück seines Weges tapfer beizustehen.
Eines Tages deutete er auf eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift. Die Sendung am Abend, auf die er seinen Finger legte, beschäftigte sich mit dem Thema Sterbehilfe. Erschrocken sah ich meinen Vater an. Das konnte er doch wohl nicht von mir verlangen.
?Papa, das ist in Deutschland verboten! Und das aus gutem Grund. Ich kann dir nicht einfach irgendwoher Gift besorgen.? Entrüstet wehrte ich das Ansinnen ab. Mir war zwar klar, dass der Ausgang seiner Krankheit im letzten Stadium die Hölle sein konnte. Aber dass er in Kauf nahm, dass man mich für seine Tötung vor Gericht stellen würde, irritierte mich doch sehr. Er legte die Hände auf seinen Brustkorb und sog mühevoll die Luft in die Lungen. Es war klar, dass er damit darauf hinweisen wollte, dass er elendig ersticken würde, wenn die Muskellähmung die Lungen erreicht hätte. Mir liefen vor Angst und Mitgefühl die Tränen die Wangen hinab. Ich versprach ihm, mir die Sendung abends wenigstens anzusehen.
Es war ein sehr differenzierter Bericht über das Für und Wider der Sterbehilfeangebote in der Schweiz. Die Gegner unterstellten den Betreibern Geldmacherei. Es wurden Aussagen von anonymisierten Angehörigen gezeigt, die angaben, wegen Überfüllung des Appartementhauses in einem Wohnmobil auf dem zugehörigen Parkplatz untergebracht worden zu sein. ´Du meine Güte`, dachte ich. Seinen eigenen Vater in einer Campingplatzatmosphäre sterben zu lassen, fänden sicher die meisten Menschen geschmacklos. Auf der anderen Seite wurde geschildert, dass die Patienten von mindestens zwei Ärzten ihrer Heimat eine Bestätigung darüber beibringen mussten, dass ihre Erkrankung definitiv unheilbar und im Endstadium war. Vor Ort würden nochmals Untersuchungen von einem unabhängigen Arzt durchgeführt. Darüber hinaus würde, bevor es endgültig so weit wäre, wiederholt gefragt, ob es jetzt dem Wunsch des Patienten entspräche, nun zu sterben. Erst dann würde ein Medikamentengemisch verabreicht, das schließlich zum Tode führte. Auf Wunsch könnten die Angehörigen die ganze Zeit dabei sein, den Prozess begleiten und sich in Ruhe verabschieden. Das beruhigte mich ein bisschen. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Wie sich allerdings herausstellte, hatte meine Mutter sich geweigert eine Fernsehsendung über ?Sterbetourismus?, wie sie es nannte, zu sehen. Mein Vater sah mich fragend an.
?Ich kann mich ja wenigstes Mal erkundigen, wie das so laufen könnte?, stellte ich ihm in Aussicht. Dankbar lächelte er- endlich wieder einmal.
Wie sich heraus stellte, musste mein Vater erst einmal Mitglied in dem Verein werden. Diese Mitgliedschaft kostete auch einen gewissen Beitrag im Jahr. Das Geld würde für Aufklärungskampagnen und für die Unterhaltung der Immobilie verwendet. Aber auch die Unterbringung von finanzschwächeren Angehöriger würde damit bezuschusst. Die Untersuchung, Betreuung und letztendlich die Vergabe der Medikamente war natürlich auch nicht kostenfrei. Das Einholen der Informationen und auch die Beschäftigung mit der möglichen Organisation des Transports belasteten mich nur wenig. Das ganze Unterfangen erschien mir auch noch nicht real. Es fühlte sich eher an wie einen zu Urlaub buchen. Als ich jedoch die sachlichen Dinge erledigt hatte, krochen ganz allmählich Zweifel und Skrupel in mein Herz.

Die nächsten drei Wochen waren die schlimmsten meines Lebens. Als mein Vater zusehends schwächer wurde, suchten wir seinen Hausarzt auf und besprachen mit ihm die Pläne meines Vaters, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Er überwies uns zu einem ortsansässigen Neurologen, da mein Vater sich weigerte noch einmal in die Klinik zu gehen. Die Ärzte hatten ethisch recht unterschiedliche Haltungen zum Thema Sterbehilfe. Beide klärten uns aber neutral und sachlich über den zu erwartenden weiteren Verlauf der ALS- Erkrankung bis zum Tode auf. Keiner von beiden versuchte meinen Vater oder mich zu beeinflussen oder unter Druck zu setzen. Ich bin noch heute dankbar für die fachliche Unterstützung.
Anders war es im familiären Umfeld und Bekanntenkreis. Meine Eltern sprachen mit ihren eigenen Freunden und Bekannten, so viel ich weiß, überhaupt nicht über dieses Thema. Schwäche oder Schmerz zu zeigen war in ihrer Generation verpönt. ?Man muss immer tapfer sein!?, war Mutters Devise. Vor Besuchern wurde der Zustand meines Vaters totgeschwiegen oder bagatellisiert. Oft hörte ich zum Abschied joviale Floskeln, wie: `Es wird schon wieder, Walter. Halt die Ohren steif `. Für mich waren die vertanen Chancen, sich in Würde und Respekt voneinander zu verabschieden, sehr traurig. Wie es meinem Vater damit ging, und ob er sich etwas anderes gewünscht hätte, werde ich nie erfahren. Mit meiner Mutter kann ich bis heute nicht über ihre Gefühle sprechen.
?Quäl mich doch damit nicht, Kind. Das ist doch jetzt Vergangenheit.?
Nun, ich konnte und wollte meine Gefühle nicht verbergen. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Auf Grund meiner großen Gewissensnöte schlief ich kaum noch; und wenn, dann hatte ich Alpträume. Die Träume handelten meistens von dem gleichen Horrorszenario, das mich auch tagsüber immer wieder umtrieb. Meine beste Freundin Anne fragte mitfühlend:
?Was quält dich denn eigentlich so, Barbara. Ich denke, du hast dich doch eigentlich schon längst entschieden?!?
Dadurch kamen endlich die ganzen schmerzhaften Zweifel an die Oberfläche:
?Was, wenn es doch Heilung gäbe? Wenn kurz nach der Tötung auf Verlangen ein Mittel gefunden würde, das meinem Vater noch zehn oder gar zwanzig schöne Jahre hätte ermöglichen können. Das würde ich mir doch niemals verzeihen ??, schluchzte ich. `Und meine Mutter schon mal gar nicht`, dachte ich insgeheim. Nicht auszudenken, wenn ich mich dann vor ihr dafür verantworten müsste. Das Verhältnis zu meiner Mutter stand ja auch jetzt schon auf der Kippe. Wir wollten beide das Richtige tun. Wir wollten beide einem geliebten Menschen helfen. Aber eben auf unterschiedliche Art und Weise. Die Kluft, die es mittlerweile zwischen ihr und mir gab, war kaum noch zu überbrücken. Anne verzog zweifelnd ihr Gesicht: ?Trotzdem, wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit eines Heilmittels in naher Zukunft? Sicher, die Spezialisten in der Uniklinik stellen mittelfristig Forschungsergebnisse in Aussicht. Prominente Persönlichkeiten haben sich im Internet schon mal Kübel voller Eiswürfel über den Kopf geschüttet, um auf die tückische Krankheit aufmerksam zu machen und Spenden zu sammeln, aber ??
?Ja, ja?, fiel ich ihr ins Wort. ?Ich weiß es doch. Für meinen Vater kommt das alles zu spät. Ach Anne, was soll ich nur tun??
Aber meine Freundin konnte mir die schwerste Entscheidung meines Lebens auch nicht abnehmen. Früher wäre ich Rat suchend zu meinem Vater gegangen. Verzweifelt machte ich nun alles mit mir alleine aus.
Meine Freunde und Kollegen machten sich bald Sorgen wegen meines Gewichtsverlustes oder sprachen mich auf meine dunklen Augenringe an. Als ich unsere Pläne, meinen Vater zum Sterben in die Schweiz zu bringen, offenbarte, ergoss sich ein Sturm der Entrüstung über mich. Aber auch über meinen Vater. Manche meiner engen Freunde waren der Ansicht, so etwas Grauenvolles dürften Eltern von ihren Kindern nicht verlangen. Das sei nicht nur moralisch verwerflich sondern auch eine Zumutung für meine psychische Gesundheit. Er dürfe mir nicht die Mitverantwortung für seinen Tod aufbürden. Alle hatten plötzlich eine feste Meinung zu einem Thema, über das wir vorher nie gesprochen hatten. In meinem Kopf drehte sich alles. Durfte mein Vater das tatsächlich von mir erbitten, oder war das egoistisch von ihm? Sollte man das Leben und Sterben allein in Gottes Hand lassen, wie eine Kollegin zu bedenken gab? Ich wusste nicht ein noch aus.
Erst als meine Freundin mich fragte: ?Wann genau wollt ihr denn fahren??, wurde mir die ganze Tragweite der Entscheidung bewusst. Ja, wann? Wie entscheidet man, wann man seine Eltern ins Auto packt und in die Schweiz fährt, als machte man einen Familienausflug? Nur, dass diese Reise damit endete, dass der Vater auf Wunsch getötet würde. Auf einmal kam mir die ganze Situation absurd vor. Das war doch wirklich zu viel verlangt. Gab es denn keine andere, humanere Möglichkeit? Ich versuchte ein letztes Mal mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Wir beide waren doch schließlich diejenigen, die meinem Vater am nächsten standen und diese Entscheidung gemeinschaftlich treffen sollten. Meine Mutter machte mir jedoch unmissverständlich klar, dass sie nicht mitfahren würde.
?Als der Papa den Lumpi hat einschläfern lassen, bin ich auch nicht mit. Ich kann so was nicht.?
Der Vergleich klang in meinen Ohren makaber. Wer aber jemals vor der Entscheidung stand, wann er sein, über alles geliebtes, Haustier zum Erlösen zum Tierarzt bringen sollte, kann den Schmerz in etwa nachvollziehen.

In diesem Zwiespalt der Gefühle sah ich meinen Vater weiter zugrunde gehen. An dem Tag, als ich vom Flur aus sah, dass meine Mutter ihm die Hose nach dem Toilettengang hochziehen musste, fasste ich meinen Entschluss. Niemand hatte es verdient so qualvoll zu enden. Das wollte ich meinem geliebten, großen, starken Papa nicht antun. Er hatte mich in meinem Leben immer unterstützt- egal, ob es um Scheidung oder Finanzierung einer Wohnung ging. Wenn das jetzt sein letzter Wille und einziger Wunsch an seine Tochter wäre, dann musste und wollte ich ihm den erfüllen.
Schweren Herzens nahm ich Kontakt zu der Klinik in der Schweiz auf. Ich vereinbarte dort einen Termin für meinen Vater und buchte eine Ferienwohnung für meine Mutter und mich. So ganz hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie uns begleiten würde. Die nächsten Tage verlebte ich wie im Nebel. Ich besorgte aktuelle Atteste von den beiden Ärzten, beantragte Urlaub und packte Sachen zusammen. Wahrscheinlich traf ich noch eine Menge mehr Vorbereitungen. Ich kann mich aber beim besten Willen kaum noch an diese traumatische Zeit erinnern. Einen Satz, den mir der alte Nachbar unserer Eltern an der Haustür hinterher schrie, den werde ich allerdings mein Lebtag nicht vergessen: ?Dafür kommst du in die Hölle!?
Das wird mir allerdings hoffentlich erspart bleiben. Mein Vater hat mich nämlich letztendlich doch noch von dieser unmenschlichen Aufgabe erlöst. Drei Tage später rief meine Mutter gegen zehn Uhr an. Die Ärztin meinte ich solle schnell kommen. Mein Vater würde, aller Vorrausicht nach, den Tag nicht überleben.
?Er ist auf der Toilette einfach zusammen gebrochen?, schluchzte meine Mutter. Sie hatte den Notarzt rufen müssen. Obwohl mein Vater zu dem Zeitpunkt, auf Grund des Muskelschwunds, nur noch 47 Kilogramm wog, war sie nicht in der Lage ihn ins Bett zu hieven. Jetzt lag er ohne Bewusstsein da und sog mit viel Kraftaufwand Luft in seine Lungen. Seine Hände und Füße waren unnatürlich geschwollen. Er würde nicht wieder wach werden, sagte die Ärztin. ?Wir sorgen dafür, dass er nicht leiden muss, bis der Atem still steht?, versicherte sie mir. ? Machen Sie sich keine Gedanken darum.?
Sie kam an dem Tag noch dreimal wieder. Das war sehr tröstlich für uns. Ich blieb bei meinem Vater, hielt seine Hand und massierte ihm die Füße. Auch versprach ich ihm, mich um meine Mutter zu kümmern, wenn er nicht mehr bei uns war.
?Du darfst ruhig gehen, Papa.?
Kurz nach 18 Uhr nahm er noch einen quälenden Atemzug. Dann war es still.
Eine zusätzliche Belastung war für meine Mutter und mich die abschließende Untersuchung, die ausschließen sollte, dass mein Vater auf Grund von Fremdverschuldung verstorben war. Wir waren entsetzt, dass wir in unserer Trauer mit so einem unglaublichen Verdacht konfrontiert wurden. Allerdings versicherte uns die Ärztin, dass dies absolute Routine und Vorschrift sei. Zu viele Angehörige wollten ihren Liebsten das Leiden selber verkürzen. Auf diese furchtbare Idee war ich während der ganzen Zeit gar nicht gekommen. Mein Vater zum Glück auch nicht; jedenfalls hat er es nicht geäußert. Wie groß muss das Leid und die Verzweiflung bei manchen Menschen sein, wenn sie zu dieser Tat schreiten und sich auch noch dabei strafbar machen ?
Heute bin ich meinem Vater sehr dankbar, dass er mir die Entscheidung zur Fahrt in die Sterbeklinik erspart hat. Hätte ich es letztlich getan? Nach einem Jahr Abstand und vielen therapeutischen Gesprächen zur Aufarbeitung des Erlebten, kann ich sagen: Ja! Es war der letzte Wunsch meines Vaters an mich, sein einziges Kind. Ein Mann, dem es immer wichtig war selbstbestimmt zu leben und, eben auch, selbstbestimmt zu sterben. Und ich weiß: wenn ich jemals in so eine Situation käme, würde ich mir wünschen auch jemanden zu haben, der das für mich täte. Ob die ALS- Krankheit vererbbar ist, ist noch unklar. Die familiäre Häufung liegt bei 5- 10 Prozent. Allerdings weiß ich nun ganz genau in welche ungeheuren Gewissenskonflikte jemand kommen kann, dem solch eine Bitte angetragen wird. Ich kann nur appellieren, weder mit psychologischem Druck dafür noch mit der moralischen Keule dagegen zu argumentieren. Dies ist eine Entscheidung, die jeder Mensch ganz alleine mit seinem Gewissen ausmachen muss.