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Mittwoch, 6. März 2019
Kapitel 1: Baggersee
petracelli, 17:16h
Ich habe sie so gehasst. Gehasst, gehasst, gehasst. Du doch auch- gib`s doch endlich zu!
Also, wenn Sie mich so fragen: ich bin eine ganz normale 52- jährige Frau. Mit ganz normalen menschlichen Gefühlen. Klar, wir hatten nicht das beste Verhältnis, aber meine Schwester war ja auch fünf Jahre älter als ich. Das ist in Kindheit und Pubertät schon ziemlich viel. Zum Teil ein unüberbrückbarer Graben. Sie war halt anders.
Pf, anders! Alles drehte sich doch immer nur um sie. Sie war das hübsche Kind. Schöne, gleichmäßige Zähne, dicke, lockige lange Haare und tiefblaue runde Augen. Das perfekte Kindchenschema eben. Und ich? Brille, Zahnspange, Einlagen- wer guckte mich schon an?! Aber musste sie auch noch die ganze Auf-merksamkeit unserer Eltern binden, nur weil sie nicht wusste, was aus ihr werden sollte? Erst Stewardess- was sonst- dann abgebrochen und untergetaucht ins Drogenmilieu. Meine Eltern waren danach ein-fach nicht mehr für mich präsent, diese widerlichen, kleinbürgerlichen Spießer. Gebrochene Leute. Es gab mich nicht mehr für sie. Völlig egal, was ich auch anstellte, um auf mich aufmerksam zu machen, waren sie Meister in Selbstgerechtigkeit und Verdrängung.
Warum hat sie mich alleine gelassen mit den Verrückten? Warum? Ich habe es ihr nie verziehen. Niemals! Das musste sie büßen …
Meine Schwester war wirklich ein entzückendes Kind. Das muss ich neidlos anerkennen. Ich habe sie sehr bewundert und hing wie ein Hündchen an ihrer Schleppe. Heute kann ich darüber lachen. Es war ihr sicher auch lästig. Da muss man Verständnis für haben. Falls sie eigene Kinder oder Geschwister haben, dann wissen Sie ja sicher, dass ältere Geschwister mit ihren jüngeren Schwestern und Brüdern bestimmt alle mal Schabernack machen.
Schabernack? Schabernack?? Mein Gott, wie kannst du das so bagatellisieren? Oder willst du dich nicht mehr erinnern? Du bist ja schon genauso rigoros wie Mama und Papa.
Gequält hat sie mich, ausgenutzt und den Eltern zum Fraß vorgeworfen. Keins meiner Osternester hat den Ostermontag überstanden, ohne von ihr geplündert zu werden. Und wenn ich dann heulend zu Mama lief- ja mein Gott, was blieb mir denn übrig?- dann verkloppte sie mich im Treppenhaus. Und um sich vor den großen Jungs zu profilieren brachte sie mich mit zum Fußball pölen und stellte mich ins Tor! Weißt du nicht mehr, wie hart die Lederbälle in dein Gesicht klatschten, so extra fest, wie die Jungen dann drauf ballerten?
Ach, das war eigentlich eine ganz schöne Zeit, als meine Schwester noch zu Hause war. Sie müssen wissen, dass ich schreckliche Angst vor Gewitter habe. Immer noch. Aber als Kind ganz schlimm. Meine Mutter hat immer alle Stecker rausgezogen, Rollladen runtergelassen und unter den Esstisch gekrochen. Das sitzt natürlich tief. Kriege ich nicht mehr raus. Aber ist ja auch gefährlich, so ein Blitzeinschlag. Da können Sie sagen, was Sie wollen, immer wieder liest man in der Zeitung, dass Kühe oder Fußballer vom Blitz erschlagen werden. Na ja, auf jeden Fall war das der einzige Moment, in dem ich bei meiner Schwester ins Zimmer durfte. Wir haben uns auf die Fensterbank gelehnt und gezählt, wie viele Se-kunden nach dem Blitz es dauerte, bis der Donner ertönte. So viele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Wussten Sie nicht? Meine Schwester aber. Ach, ich vermisse sie so.
Du vermisst sie? Du Heuchlerin! Jahrzehntelang hat sie von Papa Unterhalt bekommen. Für` s Nichtstun. Jeden Monat 300 D- Mark für Drogen, Alkohol und ihre dämlichen Schallplatten. Die ganze Zimmerdecke war tapeziert mit Postern der langhaarigen Hardrock- Penner. Und ich? Abitur mit 1,3 geschafft, Studium in Rekordzeit, super honorierte Führungsposition, Enkelsohn und Enkeltochter durch mich bekommen … Ja, fragen Sie doch bitte meine Eltern mal was ich genau studiert habe, beziehungsweise welchem Unternehmen ich vorstehe. Da wird nicht viel kommen außer Rumgedruckse. Die Krönung war, als meine Mutter die Einladung zum Klassenfest bekam. Nein, da ginge sie doch nicht hin! Da würden ja alle damit angeben, was aus ihren Kindern alles Tolles geworden wäre. Und da könne sie ja nun mal leider nicht mitreden …
Zugegeben, ich hätte mich schon gefreut, wenn meine Eltern mehr Interesse an meinem Leben gehabt hätten. Oder mal meine Erfolge wertgeschätzt hätten. Aber meine Mutter kommt ja auch aus einer anderen Generation. Als ich mein Studium begann meinte sie, wenn ich Langeweile hätte, könne ich doch Klavier spielen. Das ist mittlerweile immer eine lustige Anekdote, wenn ich in Gesellschaften bin.
Jetzt muss ich aber gleich kotzen! Eine lustige Anekdote ist dann für dich sicher auch, dass sie dich nie besucht hat, als du ganz jung und ziemlich einsam mit deinem Neugeborenen in ihre Nähe gezogen bist. Du hast so sehr gehofft, dass sie dich wenigstens jetzt unterstützt, da du auch Mutter geworden warst. Aber sie wolle nicht „stören“ und sich nicht „aufdrängen“. Kapierst du es immer noch nicht? Du interessierst sie einfach nicht. Auch das hat dein liebes Schwesterlein dir kaputt gemacht. Als ihr Sohn geboren wurde, da rannte Mama sofort hin. Der Erstgeborene, der Stammhalter bekam den ganz großen Bahnhof. Aber auch dann wieder der Streit, Kontaktabbruch. Keinen Enkel für die Oma mehr. Finito.
Ich glaube, das hat meinen Eltern den Rest gegeben. Nicht nur die Tochter sondern auch den ersten Enkel zu verlieren, der übrigens genauso aussah wie seine Mutter als Kind, das hat sie zerbrochen. Danach haben sie dicht gemacht. Kann man es ihnen verdenken? Sie mussten sich schützen vor erneutem Schmerz. Ich verstehe das. Ich kümmere mich ja noch jede Woche um meine Eltern. Im Inneren wissen sie bestimmt, was sie an mir haben. Nur drüber reden, dass fällt ihnen eben schwer. Aber ich bin da. Ich, nicht sie. Ach lächerlich; das ist ja hier kein Wettbewerb. Oje, was müssen Sie jetzt von mir denken. Wie kindisch.
Ach du kapierst es einfach nicht. Egal. Ich musste einfach die Konsequenzen ziehen. Es wäre doch sonst immer so weiter gegangen! Und Mama und Papa werden ja auch nicht jünger. Unterhalt für sie ist eine Sache, aber das halbe Erbe abgeben? Ja von wegen! Um nichts und niemanden hat sie sich je gekümmert, außer um sich selbst. Ihre Eltern ausgenutzt, ihr Kind im Stich gelassen und mich verlassen, aber Kohle abkassieren, ja von wegen. Mein ganzes Leben lang war ich Papas Ersatz; für sie und für Mama. Haus in Ordnung halten, Garten pflegen, Versicherungen abschließen, Steuererklärungen machen, mit Mietern verhandeln; alles meine Aufgabe. Da bin ich nicht gefragt worden: Nein, das war selbstverständlich. Und die ganze Zeit habe ich gehofft. Gehofft auf ein Wort der Anerkennung, der Bestätigung , der Dankbarkeit. Auf ein Zeichen, das ICH die gute Tochter bin. Ich war doch immer da! Ich habe doch alles gemacht! Ich werde verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass sie dann die Hälfte erben sollte. Nur über meine …Also, was ich sagen will: es gibt ja doch noch so was wie Gerechtigkeit im Leben, oder etwa nicht? Na sag schon. Du bist doch der Moralapostel, der Mutmensch und schlauste Schlaumeier unter der Sonne…
Also ich sag mal so: als es mit dem Drogenkonsum immer heftiger wurde und ich dafür sorgen musste, dass man ihr das Kind weg nahm, da war mir auch klar, das unsere Beziehung nicht mehr zu kitten war. Aber man hat ja Verantwortung als Familie. Die nächste Stufe bergab war dann die Obdachlosigkeit. Aber ich habe da nicht mehr eingesehen, dass mein Vater immer weiter die Miete für die zahlte. Das ging ja schließlich letztendlich auch alles von meinem späteren Vermögen ab. Das hätten Sie doch auch gelöscht, wenn sie die Kontovollmacht Ihrer Eltern bekommen hätten, oder? Also den Dauerauftrag löschen, meine ich. Sie hätte ja dadurch auch gezwungen werden können, mal endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Das hätte ja auch eine Wendung in die richtige Richtung sein können! Stattdessen stand sie eines Tages vor der unserer Eltern. Es fehlte ihr ein Schneidezahn! Ihr, dem Mädchen mit den schönen Zähnen! Das hat mich so geschockt, dass ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen habe. Zum Glück war ich gerade da, so dass meine Eltern das Elend nicht mit ansehen mussten. Gott sei dank konnte ich sie wieder mal schützen.
Sie hat mir dann noch einen Brief geschrieben. Einen Bettelbrief. Abstoßend. Das war nicht mehr meine Schwester. Sie wollte Geld. Die Drogen sollte ich ihr auch noch besorgen. So eine Unverschämtheit! Na ja, wir trafen uns dann noch einmal am Baggersee. Ihre ganze abgeranzte Clique war schon völlig zugedröhnt. Ich habe ihr dann ein bisschen was gegeben …
Gut, den Tod habe ich ihr natürlich nicht gewünscht! Blut ist ja immer noch dicker als Wasser. Und ich habe ja keine anderen Geschwister. Aber vielleicht ist es ja besser so für sie. Das war ja kein wertvolles Leben mehr. Und für unsere Eltern ist es bestimmt auch besser, sich nicht weiter zu quälen mit unerfüllbaren Hoffnungen. Irgendwann lässt deren Schmerz nach. Und dann sehen sie endlich, was sie an mir haben. Ach das wird schön!
"Mecklenburg Am Samstag wurde im Baggersee die Leiche einer 57- jährigen Frau
gefunden. Die Obduktion ergab, dass sie auf Grund einer massiven Überdosis eines
Drogencocktails einen Herzstillstand erlitt und ertrank. Die näheren Umstände konnten
nicht geklärt werden, da sich außer der Toten nur weitere Obdachlose in der Nähe befanden,
die ebenfalls unter extremem Einfluss von Betäubungsmitteln, Alkohol und weiteren Drogen
standen."
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SPRINT
petracelli, 17:14h
Jetzt war es aber ganz deutlich zu hören. Sie war doch nicht meschugge. Da, schon wieder. Oh Gott, das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte extra so lange gewartet. Alle Parameter waren erfüllt gewesen: gründliche Recherche, perfektes Timing. Und trotzdem sollte das nicht gereicht haben?
Im Schutz der kleinen schattigen Nische, die der Vorsprung der rauen Betonwand bildete, machte sie kurz Pause um zu lauschen. Sie presste sich so flach es ging an die kalte Wand. Ihr Herz hämmerte. Durch tiefes Einatmen versuchte sie es zu beruhigen. Das Blut rauschte wie eine Wildwasserbahn in ihren Ohren. So laut, dass sie die feinen Geräusche der Umgebung gar nicht richtig hören konnte. Das durfte nicht sein. Das war fatal!
Ihr wurde schwindelig. Zu sehr konzentrierte sie sich darauf möglichst viel Luft in ihre Lungen zu saugen und anschließend, so langsam und leise es ging, wieder entweichen zu lassen. Die Umrisse der Feuerschutztür vor ihr verschwammen. Verdammt!
Wenn sie es doch nur schaffte, sie ohne quietschendes Geräusch in den Angeln zu öffnen und durch zu huschen. Dann hätte sie fast die Hälfte geschafft.
Oh nein! Jetzt sah sie von hinten den eindeutigen Schein der roten Ampelanlage, die aufleuchtete, sobald das Rolltor von außen geöffnet wurde. Es kam jemand. Ganz klar. Es war gleich jemand hier drin.
Zurück? Sollte sie schnell wieder in den halbdunklen Gang laufen, den sie gerade auf ihren leisen Sneakersohlen durchquert hatte? Mucksmäuschenstill und mit heißem Atem die ganze Strecke von vorne? Mist- mindestens sieben Minuten umsonst. Fünf Minuten davon fielen schon in die gefährlichste Zeit. Sie hatte es ganz genau ausgerechnet. Wieder und wieder. Sie hätte heulen können vor Wut und Enttäuschung. Aber vor allem Angst, diese luftabschnürende, schneidende allesumfassende Angst.
Also Flucht nach vorne. Schnell, bevor das Rolltor sich öffnete und jemand hereinfuhr.
Mist, ihr Anhänger am Schlüsselbund klackerte an die silberne Schnalle ihres Taschengurtes. Sie dämliche Kuh- blöd, blöd, blöd! Sie hatte sich schon vor Monaten extra angewöhnt die Tasche links und die Schlüssel in der rechten Hand zu halten. Damit sie ganz schnell aufschließen konnte aber eben auch, damit sie eben nicht durch das Geräusch auf sich aufmerksam machte. Sie dumme Kuh, unbelehrbar, unfähig, leichtsinnig. Sie hatte es ja gar nicht besser verdient, war selber schuld. Sie hätte kotzen können vor so viel Dummheit.
Ihre selbstzerfleischenden Vorwürfe und Schuldzuweisungen halfen nichts. Das wusste sie schon lange. Aber diese zweite, innere Stimme, die sie hörte, konnte sie nicht abstellen.
Sie musste trotzdem weiter. Der Rückweg war jetzt definitiv versperrt. Sie hatte zu lange gewartet. Nun hörte sie schon die schmatzenden Geräusche der Autoreifen und anschließend das ploppende Zuschlagen einer Autotür.
Sie hatte zu lange gezögert. Mal wieder unfähig, sich zu entscheiden, hatte sie vielleicht gleich einen hohen Preis für ihre Unschlüssigkeit zu zahlen. Aber sie war immer noch gelähmt vor Entsetzen. Sie hatte in ihrer detaillierten Planung jemanden außer Acht gelassen. Irgendeine Komponente hatte sie übersehen. Wie war das möglich? Dies hatte oberste Priorität gehabt. Seit Monaten beschäftigte sie sich kaum mit etwas anderem. Es war doch so wichtig für sie. So elementar für ihr Leben. Sie wollte nicht so weitermachen, sie konnte es nicht ertragen. Sollte ihr Plan versagen, konnte sie für nichts mehr garantieren. Sie würde das nicht länger aushalten, nicht ertragen. Ja, es war klar: sie würde so nicht mehr weiterleben wollen!
Bei der Erkenntnis, wie wahr ihre Gedanken, die sie das erste Mal so ehrlich zugelassen hatte, waren, drückten die Tränen in der Kehle und hinter den Augenlidern.
Warum? Warum, warum, warum war es so weit mit ihr gekommen? Eine Welle des Selbstmitleids drohte sie zu überschwemmen. Und wenn sie doch aufgab? Sich dem Lauf der Dinge hingab und auslieferte? Wäre das nicht einfacher? Sie hatte keine Kraft mehr …
Da, Schritte! Sie kamen immer näher. Waren schon fast vor der Eingangstür. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, sich zu retten: vorbei an den Waschküchen, die nächste Zwischentür sanft ins Schloss schnappen lassen, die Rampe hoch schleichen, ohne auf die scheppernde Metallschiene zu treten. Ja, das müsste klappen. Oh Gott sei Dank, noch vier, fünf Meter …
Auf einmal Stimmen. Stimmen von rechts. Mann? Frau? Ein Paar. Ihr wurde schlecht vom Schock. Das hatte sie nicht erwartet. Jetzt, an dieser Stelle nicht mehr. Ihre ganzen mühevollen Planungen- zunichte gemacht. Sollte es ihr nicht gelingen die Nebentür zu passieren, bevor sie ganz aufgezogen wurde, war sie verloren. Dann gab es keine Rettung mehr. Aus. Vorbei.
Zu ihrem Entsetzen sah sie jetzt, dass die Tür schon halb aufgeschoben worden war.
Der Rückweg aber auch versperrt. Dem Nachkommenden würde sie genau in die Arme laufen. Es gab keine Nische, keinen Raum, keinen abzweigenden Gang mehr dazwischen. Wie ein gehetztes Reh, ein getriebener Fuchs. Freiwild, das zum Vergnügen in die Enge getrieben wurde.
Sie musste zum Äußersten greifen. Es gab keine Alternative. Sie riss sich ein allerletztes Mal zusammen und betrat den Fahrstuhl. Todesmutig drückte sie den Knopf und das Gefährt setzte sich wackelig in Bewegung. Erleichterung? Nein, nicht in diesem stickigen Kasten. Die eine Hälfte der schummerigen Deckenspots war dunkel, die anderen flackerten lustlos.
Sie betrachtete sich in dem matten, fleckigen Wandspiegel und erschrak: die Augen dunkel vor Angst, die Wimperntusche verschmiert von den vergeblich zurückgedrängten Tränen. Ihre Haut glänzte ihr fettig und schwitzend entgegen. Sie lehnte ihre heiße Stirn gegen das Spiegelglas und gönnte sich eine kurze Atempause.
Normalerweise wäre sie für kein Geld der Welt in einen Aufzug gestiegen. Jedoch die Vorstellung, wer und was ihr im Treppenhaus alles begegnen konnte, ließen ihr keine Wahl. So empfand sie den engen, fast luftleeren Raum ausnahmsweise als schützenden Käfig.
Eine erneute Schrecksekunde als nach einem heftigen Ruck die Fahrstuhltür auf rumpelte. Würde jemand davorstehen? Was dann? Konnte sie die elektronische Tür so schnell wieder zu bekommen, dass es dem Wartenden nicht gelang zu ihr einzudringen? Oder gelänge es ihr sich mit Schwung an ihm vorbei zu drängeln. Ganz schnell, den Überraschungsmoment nutzen. Wäre es überhaupt überraschend oder wurde ihr schon aufgelauert? Na klar, sie musste damit rechnen.
Sie umfasse fest ihren Schlüsselbund und ließ nur den langen spitzen Wohnungsschlüssel wie ein kleines Messer heraus ragen. Fertig zum Einsatz. Sie würde keine Sekunde zögern und ihn sofort einsetzen. Ohne Skrupel, ohne Bedauern.
Oh bitte lieber Gott, bitte, bitte! Jetzt setze sie alles auf eine Karte. Sie quetschte sich, kaum, dass die Tür zu einem Drittel zur Seite geglitten war, heraus. Gebeugt, aber mit Schwung nach vorne drängend. Ohne nach links und rechts zu sehen stürmte sie zur gegenüberliegenden Tür, fummelte kopflos den Schlüssel ins Schloss, warf sich dagegen, torkelte in ihren Windfang und donnerte die Tür mit letzter Kraft von innen zu.
Gerettet! Wieder einmal hatte sie den Weg von der Tiefgarage in ihre Wohnung geschafft, ohne von einem ihrer nervigen Nachbarn angequatscht zu werden.
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Der blaue Turban
petracelli, 17:11h
Sollte sie richtig satte, irischrote Haare haben, wäre sie fällig. Oder wenigstens so helle rotblonde, erdbeerblond nannte man das wohl. Bei dem Gedanken an langes, seidiges Haar, das sich auf ihren Rücken ergießen könnte, sobald sie den blauen Turban abnahm, spürte er wie sich endlich einmal wieder etwas regte in seinem Schritt.
Es war lange her, dass ihn eines der Mädchen erregt hatte, die er jahrelang in der Grundschule gegenüber unauffällig beobachten konnte. Als Hausmeister war das ein Schlaraffenland für ihn gewesen. Nun hatten die Vollidioten von der Stadtverwaltung das schöne klassizistische Gebäude in eine Wohnanlage verwandelt. Er hatte sie dafür gehasst. Seinen Job hatte verloren. Aber schlimmer noch war die Leere, die durch das Ausbleiben der kleinen Mädchen entstanden war. Sein Lebensglück - die kleinen Dinger, von denen er jeden Vormittag auf dem Pausenhof, in den Klassenzimmern, aber vor allem im Milchkeller umgeben war.
Vor allem die Rothaarigen, die hatten es ihm ganz besonders angetan. Bei denen musste er immer hart schlucken und sich zusammenreißen, um auf den richtigen Moment zu warten. Dieses kühle, weiche Gefühl auf seinem nackten Bauch. Der Griff in den dichten Hinterkopf, auf dem golden das Kellerlicht reflektierte …
Und nun dieser blaue Turban gegenüber. Sein Fernglas zeigte ihm schwimmbadblauen Frottee, eine blasse sommergesprosste Haut. Ein Haaransatz war nie zu erkennen. Er sah nun schon seit 12 Tagen hinüber. Seit sie in die Wohnung gezogen war, stand sie jeden Morgen mit ihrem Turban und einer Tasse in den Händen auf dem Balkon. Vorgestern hatte er sich beim Hausverwalter gemeldet und seine Dienste als Hausmeister erneut angeboten. Er musste irgendwie eine Legimitation für die Tiefgarage bekommen. Die Stellplätze waren sofort alle für enorme Summen vermietet worden. Das kam für ihn mit dem bisschen „Stütze“ nicht in Frage. Also wieder der graue Kittel. Besser ging es nicht. In dem war er für die Bewohner solange unsichtbar, bis sie sich über irgendetwas beschweren wollten. Ansonsten existierte er nicht für die feinen Herrschaften.
Der blaue Turban hatte Stellplatz Nummer 32. Das hatte er schon rausgefunden, als er sich einen halben Tag vor dem Tor herum gedrückt hatte. Flink wie ein Wiesel hatte er sich im Schatten der Einfahrt schnell unter dem zurollenden Tor durchgedrückt. Niemand hatte ihn bemerkt. In aller Ruhe hatte er sich das ganze Untergeschoss ansehen können- das Parkdeck, Fahrradkeller, Waschküchen. Alles war noch im Rohzustand, staubig und nur provisorisch beleuchtet. Im Fahrradkeller hingen bis jetzt nur die rohen Stromleitungen von der Decke. Etwas diffuses Licht schien durch das dreckige Kellerfenster. In der Ecke war noch ein Kabuff abgeteilt, hier stapelten sich benutzte Malervliese. Perfekt, hier würde er es machen.
Nachdem er gehört hatte wie eine Autotür ins Schloss geschnappt war und sich klackernde Schritte hastig in Richtung Treppenhaus entfernten, linste er schnell um die Ecke. Er sah, dass ihr Auto auch badezimmerblau war. Die tickte nicht richtig, die Tante. So viel Kohle, um sich hier eine Wohnung zu leisten und dann so einen grottenschlechten Geschmack.
Er erinnerte sich an die Kleine mit dem Schwammkopftornister. Sie war die zweite, bei der er sich nicht hatte beherrschen können. Sie war die einzige, die sie bis jetzt nicht gefunden hatten. Stimmt, die war ihm auch aufgefallen, weil ihr Ranzen so quietscheblau war. Nicht rosa oder pink, wie bei allen anderen Mädchen. Anscheinend fixte ihn die Farbe blau an. Die roten Haare waren gar nicht die Initialzündung. Super Selbstreflexion- er musste in sich hinein grinsen. Seine Selbsthilfegruppe mit den ganzen kranken, perversen Spackos wäre beeindruckt gewesen.
Aber tatsächlich, wenn er mal alle Mädchen Revue passieren ließ, die ihm Vergnügen bereiten mussten, dann waren da auch brünette, blonde und schwarzhaarige dabei gewesen. Sogar eine kleine Türkenmaus, oder anderer Kanaken Brut. Die Fatimahand an ihrer Halskette, war ihm aufgefallen. In der Mitte der Handfläche ein kobaltblaues Auge. Das dritte Auge, brrr, wie gruselig. Das hatte ihn gereizt. Er hatte das Gefühl, als stiere dieses blaue Auge ihm unablässig nach. Er hatte sich von ihrem dritten Auge eindeutig beobachtet und provoziert gefühlt. Als hätte sie etwas Böses. Nun, letztendlich hatte sie ihm auch tatsächlich heftig in den Schwanz gebissen, mit ihren kleinen scharfen Milchzähnen. Na ja, die biss nie wieder jemanden …
Die Allererste, das wusste er noch genau, hatte ihn mit ihren blau getünchten Augendeckeln betört. Im vierten Schuljahr, das muss man sich mal vorstellen. Was denken die Eltern sich denn auch dabei, ihre Kinder so loszuschicken. Selber Schuld. Diese nuttige Farbe des Lidschattens kannte er. Seine Mutter hatte genau den gleichen aufgelegt als er noch sehr klein war. Immer, wenn sie ihn abends alleine ließ, um in den Bars der Stadt nach potentiellen Stechern Ausschau zu halten, pinselte sie sich die Visage mit dem billigsten, grellsten Make-up zu. Wahrscheinlich auch besser so- die Hübscheste war sie nämlich nie gewesen, das hellste Licht am Christbaum leider auch nicht.
Die beiden Müllsäcke, in denen er die Kleine entsorgt hatte, hatten witzigerweise den gleichen Blauton, wie der Lidschatten. Wie passend, mülltütenblau. Er musste jetzt noch kichern, wenn er an den Moment dachte, als es ihm auffiel.
Für erwachsene Frauen hatte er sich nie erwärmen können. Zu anstrengend, zu riskant, wahrscheinlich auch zu viel Gegenwehr. Aber so kleine zierliche, oft eben rothaarige Frauen, die hatten schon noch etwas Mädchenhaftes, dass ihn anmachte. Und eigentlich ging es ihm ja vor allem um die Haare selbst. Um die Struktur. Lange Haare am liebsten, wenigstens schulterlang. Haare, die sich anfühlten wie das Fell eines Cockerspaniels oder Angorakaninchens. Eine Mähne, die sich auf seinem Unterbauch und Geschlecht ergoss, die weich und zärtlich war.
Er schloss einen Deal mit sich ab: sollte die Frau rothaarig sein- o. k.- er war ja auch nur ein Mann. Dann würde er sein Glück versuchen. Es wäre ja auch zu einfach bei ihr. Seit Tagen recherchierte er ihre immer gleichen Abläufe. Das morgendliche Ritual auf dem Balkon. Das Zurschaustellen ihres blauen Turbans in der aufgehenden Sonne, die Hände um den Kaffeebecher geschlungen.
Moment, er zoomte den Becher näher an sich heran. Blauweiß- Schalke 04, ha, wie lächerlich. Schon dafür alleine hätte sie Strafe verdient. Das würde ihm ja niemand glauben, wenn er es irgendjemandem erzählen würde. Aber das durfte er natürlich nicht.
Einmal hatte er versucht sich jemandem anzuvertrauen. Sie war in der Gruppe „Sucht“ gewesen, ein Raum weiter als seine Veranstaltungen. Dicke, krause Locken, ziemlich struppig. Nicht, wie er es gerne hatte. Sexuell regte sich da gar nichts bei ihm. Sie hätte schon gewollt. Die Signale waren eindeutig. Häufiges, unmotiviertes Berühren seines Arms beim Gespräch war noch das Harmloseste. Aber er wollte reden. Er hätte sich einmal im Leben jemanden gewünscht, der ihm zugehörte. Aber auch sie wollte nur ihren eigenen Senf loswerden, sich ausschließlich um ihr eigenes Universum kreisen. Eine Riesenenttäuschung war sie gewesen. Die letzte, dafür würde er sorgen.
Bis auf diesen Drang, diese unstillbare Unruhe, kam er nämlich sehr gut allein zurecht. Er von niemandem anhängig. Keiner konnte ihm mehr reinreden, wie seine Mutter, die Xanthippe. Das Weib hatte er auch gehasst. Ach, sie waren doch alle gleich. Der blaue Turban hatte sich auch schon mit den armen Handwerkern angelegt. Er hatte es mitgekriegt, als er die Klingelschilder am Haupteingang nach ihrem Namen überprüfte. Fast hätte er sich eingemischt, ihr seine Hilfe für die Kellerbeleuchtung angeboten. Aber im letzten Augenblick besann er sich und blieb in seiner Deckung. Niemand durfte ihn später mit ihr in Verbindung bringen. Das wäre fatal. Aber zickig war die kleine Hexe, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt. Sie würde sich bestimmt wehren, kratzen, beißen. Hauptsache nicht schreien. Aber das zu verhindern, darin hatte er ja schon Erfahrung. Sofort was ins Maul schieben. Ganz weit, bis zum Rachen. Dann hatten sie erstmal genug damit zu tun zu atmen. Er freute sich schon auf das Geräusch. Das machte ihn fast genauso an, wie der Gedanke an die Haare. Das Röcheln und den damit verbundenen vermehrten Speichelfluss waren ziemlich geil.
Aber die Haare, immer wieder die Haare! Vielleicht waren sie ja so lang, dass er sie richtig um seinen Schwanz wickeln konnte. Oder um ihren eigenen Hals. Ja, das wäre krass. So lang waren die bei den kleinen Mädchen nie gewesen. Aber unter dem blauen Turban könnten sich schon eine Menge Haare verbergen. Warum sollte sie ihn sich sonst jeden Morgen umbinden, bevor sie auf den Balkon ging? Sie würde sich morgens unter der Dusche die Haare waschen und den Körper einseifen. Besonders an den Brüsten würde sie verweilen und natürlich bei ihrer Muschi. Seifen, seifen, seifen … bis alles schön glitschig war.
Schluss jetzt! Er musste aufhören zu träumen und in die Planungsphase gehen. Also übermorgen wäre ja das
Vorstellungsgespräch in der Wohnanlage. Unten im Büro, seiner ehemaligen Hausmeisterstube, sollte er klingeln. Entweder würde ihm jemand die Haustür öffnen, dann müsste er das demütigende Gespräch über sich ergehen lassen. Oder die Türöffneranlage funktionierte endlich. Dann könnte er einfach rein gehen und sich im Fahrradkeller verstecken, bis sie in die Tiefgarage gefahren kam. Und dann gab es unzählige Möglichkeiten. Er konnte sich kaum entscheiden wo und wie er es machen würde. Fast tat es ihm Leid, das er sie nur einmal benutzen konnte. Es war ja noch ein bisschen Zeit bis dahin, aber Vorfreude war ja bekanntlich die schönste Freude.
Heute würde er sie nicht mehr sehen, das wusste er. Ihren Zeitplan kannte er ja nun genau. Zwar hatte er seine Beobachtungszeiten auf ihren Aufenthalt in der Wohnung abgestimmt, aber wenn sie heute heim kam, war er beim Doc zur Spritze. Danach waren die Rollos runter. Pech gehabt.
Aber morgen. Morgen früh würde er sich schon ganz früh den Wecker stellen, sein Fernglas in Position bringen und jede Bewegung des blauen Turbans auf dem Balkon auskosten. Mit diesem erregenden Gedanken schlüpfte er unter seine warme Decke.
Guten Morgen! Was für ein wunderbarer Tag. Die Sonne lugte schon halb an der gegenüberliegenden Hauswand vorbei auf ihren Balkon. Noch war die Balkontür zu. Er hatte wundervoll geschlafen. Nachdem er sich noch richtig schön entspannt hatte, war er in einen aufregenden, heißen Traum hinüber geglitten. Er sah Münder, die sich zum stummen Schrei öffneten, nasse Augen, die sich röteten, blaue Flecken an Kehlen, aber vor allem Haare. Haare, die sich aus dem blauen Turban befreiten und in wallenden Kaskaden herab flossen. Haare, die sich schmeichelnd über sein Gesicht legten. Duftend, kühl und weich lagen sie wie Matten aus Seide unter ihm, während es ihn überkam.
Heute war es endlich so weit. Heute war der Tag, an dem sich sein Traum erfüllen würde. Sie hatte ihn lange genug gereizt, gefoppt, ja eigentlich betrogen um den fantastischen Anblick, den der blaue Turban verhinderte. Der Plan stand fest. Es konnte nichts mehr schief gehen. Er beglückwünschte sich für seine Entscheidung und seinen Mut. Ja, er war ein richtiger Mann. Entschlossen und entscheidungsstark setze er seine Pläne in die Tat um. Er war nämlich doch etwas Wert!
Da, nun ging es los. Die Vorhänge hinter der Balkontür bewegten sich. Sie öffnete die Tür und trat ans Geländer. Das grelle Blau des Turbans schien ihn zu verhöhnen.
Irgendetwas aber war anders als sonst! Ihr Bademantel, den sie sonst jeden Morgen trug, fehlte. Ja, tatsächlich, sie war schon angezogen. Sie hatte ein angeberisches Businesskostüm mit Blazer und Bleistiftrock an, diese arrogante Schlampe. Sie war auch schon geschminkt. Er erkannte mit dem Fernglas einen fiesen grellen Lippenstift. Na egal, den würde er ihr schon runterwischen. Sie schien es sehr eilig zu haben. Sie hatte keinen Kaffeebecher dabei. Nein, jetzt sah er, dass sie sogar ihre Aktentasche schon unter dem Arm hatte und aus ihr ein Handy zog. Mmh, Hauptsache, sie brachte den Zeitplan für ihr gemeinsames Tete à Tete heute Nachmittag nicht durcheinander, mit ihrem frühen Aufbruch. Denn heute war sie fällig, da gab es kein Zurück mehr. Heute würde er sie in der Tiefgarage abpassen, in das Kabuff des Fahrradkellers ziehen und sich über sie hermachen. Zuerst würde er sie an den Haaren packen, oh diese herrlichen, göttlichen Haare, der Schmuck der Frauen …
Moment, was war das? Sie legte kurz das Handy auf den Plastiktisch. Anscheinend gelang es ihr nicht, den Apparat zwischen Turban und Ohr zu schieben. Die beugte den Kopf vor, umfasste mit beiden Händen das blaue Frotteetuch, um es zu lösen. Sein Herz schlug wild und hart gegen Brust und Hals. Bei der Vorstellung, wie sie gleich ihr Haar befreite und endlich zu erkennen gab, was sich genau unter dem blauen Turban verbarg, spürte er auch ein pulsierendes Klopfen in seinem Gemächt. Gemächt, was für ein mächtiges Wort.
Jetzt. Jetzt war es gleich soweit. Was hoffte er? Rot, blond, Locken, glattes Haar? Ach, wenn er ehrlich war, war es ihm schon lange ganz egal. Die Farbe des fließenden Haarmantels würde er in dem finsteren Keller sowieso nicht erkennen können. Er wollte nur das geschmeidige Gefühl auf seiner nackten Haut.
Er tauschte das Fernrohr gegen seinen Fotoapparat aus, mit dem er auch diese Trophäe vor der Tat festhalten wollte. Vor Erregung und Ungeduld zitternd, verlor er ihr Bild einen Moment aus dem Zentrum der Linse.
Ruhig jetzt. Ganz ruhig und besonnen. Keinen Fehler machen. Er war nach so langer Zeit mal wieder am Ziel seiner Wünsche. Er hielt die Luft. Und genau in dem Augenblick, als er sie wieder voll zentriert betrachten konnte, schob sie mit Schwung den blauen Turban von ihrem Kopf.
Sie war kahl.
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