Mittwoch, 6. März 2019
Kapitel 1: Baggersee


Ich habe sie so gehasst. Gehasst, gehasst, gehasst. Du doch auch- gib`s doch endlich zu!

Also, wenn Sie mich so fragen: ich bin eine ganz normale 52- jährige Frau. Mit ganz normalen menschlichen Gefühlen. Klar, wir hatten nicht das beste Verhältnis, aber meine Schwester war ja auch fünf Jahre älter als ich. Das ist in Kindheit und Pubertät schon ziemlich viel. Zum Teil ein unüberbrückbarer Graben. Sie war halt anders.

Pf, anders! Alles drehte sich doch immer nur um sie. Sie war das hübsche Kind. Schöne, gleichmäßige Zähne, dicke, lockige lange Haare und tiefblaue runde Augen. Das perfekte Kindchenschema eben. Und ich? Brille, Zahnspange, Einlagen- wer guckte mich schon an?! Aber musste sie auch noch die ganze Auf-merksamkeit unserer Eltern binden, nur weil sie nicht wusste, was aus ihr werden sollte? Erst Stewardess- was sonst- dann abgebrochen und untergetaucht ins Drogenmilieu. Meine Eltern waren danach ein-fach nicht mehr für mich präsent, diese widerlichen, kleinbürgerlichen Spießer. Gebrochene Leute. Es gab mich nicht mehr für sie. Völlig egal, was ich auch anstellte, um auf mich aufmerksam zu machen, waren sie Meister in Selbstgerechtigkeit und Verdrängung.
Warum hat sie mich alleine gelassen mit den Verrückten? Warum? Ich habe es ihr nie verziehen. Niemals! Das musste sie büßen …

Meine Schwester war wirklich ein entzückendes Kind. Das muss ich neidlos anerkennen. Ich habe sie sehr bewundert und hing wie ein Hündchen an ihrer Schleppe. Heute kann ich darüber lachen. Es war ihr sicher auch lästig. Da muss man Verständnis für haben. Falls sie eigene Kinder oder Geschwister haben, dann wissen Sie ja sicher, dass ältere Geschwister mit ihren jüngeren Schwestern und Brüdern bestimmt alle mal Schabernack machen.

Schabernack? Schabernack?? Mein Gott, wie kannst du das so bagatellisieren? Oder willst du dich nicht mehr erinnern? Du bist ja schon genauso rigoros wie Mama und Papa.
Gequält hat sie mich, ausgenutzt und den Eltern zum Fraß vorgeworfen. Keins meiner Osternester hat den Ostermontag überstanden, ohne von ihr geplündert zu werden. Und wenn ich dann heulend zu Mama lief- ja mein Gott, was blieb mir denn übrig?- dann verkloppte sie mich im Treppenhaus. Und um sich vor den großen Jungs zu profilieren brachte sie mich mit zum Fußball pölen und stellte mich ins Tor! Weißt du nicht mehr, wie hart die Lederbälle in dein Gesicht klatschten, so extra fest, wie die Jungen dann drauf ballerten?

Ach, das war eigentlich eine ganz schöne Zeit, als meine Schwester noch zu Hause war. Sie müssen wissen, dass ich schreckliche Angst vor Gewitter habe. Immer noch. Aber als Kind ganz schlimm. Meine Mutter hat immer alle Stecker rausgezogen, Rollladen runtergelassen und unter den Esstisch gekrochen. Das sitzt natürlich tief. Kriege ich nicht mehr raus. Aber ist ja auch gefährlich, so ein Blitzeinschlag. Da können Sie sagen, was Sie wollen, immer wieder liest man in der Zeitung, dass Kühe oder Fußballer vom Blitz erschlagen werden. Na ja, auf jeden Fall war das der einzige Moment, in dem ich bei meiner Schwester ins Zimmer durfte. Wir haben uns auf die Fensterbank gelehnt und gezählt, wie viele Se-kunden nach dem Blitz es dauerte, bis der Donner ertönte. So viele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Wussten Sie nicht? Meine Schwester aber. Ach, ich vermisse sie so.

Du vermisst sie? Du Heuchlerin! Jahrzehntelang hat sie von Papa Unterhalt bekommen. Für` s Nichtstun. Jeden Monat 300 D- Mark für Drogen, Alkohol und ihre dämlichen Schallplatten. Die ganze Zimmerdecke war tapeziert mit Postern der langhaarigen Hardrock- Penner. Und ich? Abitur mit 1,3 geschafft, Studium in Rekordzeit, super honorierte Führungsposition, Enkelsohn und Enkeltochter durch mich bekommen … Ja, fragen Sie doch bitte meine Eltern mal was ich genau studiert habe, beziehungsweise welchem Unternehmen ich vorstehe. Da wird nicht viel kommen außer Rumgedruckse. Die Krönung war, als meine Mutter die Einladung zum Klassenfest bekam. Nein, da ginge sie doch nicht hin! Da würden ja alle damit angeben, was aus ihren Kindern alles Tolles geworden wäre. Und da könne sie ja nun mal leider nicht mitreden …

Zugegeben, ich hätte mich schon gefreut, wenn meine Eltern mehr Interesse an meinem Leben gehabt hätten. Oder mal meine Erfolge wertgeschätzt hätten. Aber meine Mutter kommt ja auch aus einer anderen Generation. Als ich mein Studium begann meinte sie, wenn ich Langeweile hätte, könne ich doch Klavier spielen. Das ist mittlerweile immer eine lustige Anekdote, wenn ich in Gesellschaften bin.

Jetzt muss ich aber gleich kotzen! Eine lustige Anekdote ist dann für dich sicher auch, dass sie dich nie besucht hat, als du ganz jung und ziemlich einsam mit deinem Neugeborenen in ihre Nähe gezogen bist. Du hast so sehr gehofft, dass sie dich wenigstens jetzt unterstützt, da du auch Mutter geworden warst. Aber sie wolle nicht „stören“ und sich nicht „aufdrängen“. Kapierst du es immer noch nicht? Du interessierst sie einfach nicht. Auch das hat dein liebes Schwesterlein dir kaputt gemacht. Als ihr Sohn geboren wurde, da rannte Mama sofort hin. Der Erstgeborene, der Stammhalter bekam den ganz großen Bahnhof. Aber auch dann wieder der Streit, Kontaktabbruch. Keinen Enkel für die Oma mehr. Finito.

Ich glaube, das hat meinen Eltern den Rest gegeben. Nicht nur die Tochter sondern auch den ersten Enkel zu verlieren, der übrigens genauso aussah wie seine Mutter als Kind, das hat sie zerbrochen. Danach haben sie dicht gemacht. Kann man es ihnen verdenken? Sie mussten sich schützen vor erneutem Schmerz. Ich verstehe das. Ich kümmere mich ja noch jede Woche um meine Eltern. Im Inneren wissen sie bestimmt, was sie an mir haben. Nur drüber reden, dass fällt ihnen eben schwer. Aber ich bin da. Ich, nicht sie. Ach lächerlich; das ist ja hier kein Wettbewerb. Oje, was müssen Sie jetzt von mir denken. Wie kindisch.

Ach du kapierst es einfach nicht. Egal. Ich musste einfach die Konsequenzen ziehen. Es wäre doch sonst immer so weiter gegangen! Und Mama und Papa werden ja auch nicht jünger. Unterhalt für sie ist eine Sache, aber das halbe Erbe abgeben? Ja von wegen! Um nichts und niemanden hat sie sich je gekümmert, außer um sich selbst. Ihre Eltern ausgenutzt, ihr Kind im Stich gelassen und mich verlassen, aber Kohle abkassieren, ja von wegen. Mein ganzes Leben lang war ich Papas Ersatz; für sie und für Mama. Haus in Ordnung halten, Garten pflegen, Versicherungen abschließen, Steuererklärungen machen, mit Mietern verhandeln; alles meine Aufgabe. Da bin ich nicht gefragt worden: Nein, das war selbstverständlich. Und die ganze Zeit habe ich gehofft. Gehofft auf ein Wort der Anerkennung, der Bestätigung , der Dankbarkeit. Auf ein Zeichen, das ICH die gute Tochter bin. Ich war doch immer da! Ich habe doch alles gemacht! Ich werde verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass sie dann die Hälfte erben sollte. Nur über meine …Also, was ich sagen will: es gibt ja doch noch so was wie Gerechtigkeit im Leben, oder etwa nicht? Na sag schon. Du bist doch der Moralapostel, der Mutmensch und schlauste Schlaumeier unter der Sonne…

Also ich sag mal so: als es mit dem Drogenkonsum immer heftiger wurde und ich dafür sorgen musste, dass man ihr das Kind weg nahm, da war mir auch klar, das unsere Beziehung nicht mehr zu kitten war. Aber man hat ja Verantwortung als Familie. Die nächste Stufe bergab war dann die Obdachlosigkeit. Aber ich habe da nicht mehr eingesehen, dass mein Vater immer weiter die Miete für die zahlte. Das ging ja schließlich letztendlich auch alles von meinem späteren Vermögen ab. Das hätten Sie doch auch gelöscht, wenn sie die Kontovollmacht Ihrer Eltern bekommen hätten, oder? Also den Dauerauftrag löschen, meine ich. Sie hätte ja dadurch auch gezwungen werden können, mal endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Das hätte ja auch eine Wendung in die richtige Richtung sein können! Stattdessen stand sie eines Tages vor der unserer Eltern. Es fehlte ihr ein Schneidezahn! Ihr, dem Mädchen mit den schönen Zähnen! Das hat mich so geschockt, dass ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen habe. Zum Glück war ich gerade da, so dass meine Eltern das Elend nicht mit ansehen mussten. Gott sei dank konnte ich sie wieder mal schützen.

Sie hat mir dann noch einen Brief geschrieben. Einen Bettelbrief. Abstoßend. Das war nicht mehr meine Schwester. Sie wollte Geld. Die Drogen sollte ich ihr auch noch besorgen. So eine Unverschämtheit! Na ja, wir trafen uns dann noch einmal am Baggersee. Ihre ganze abgeranzte Clique war schon völlig zugedröhnt. Ich habe ihr dann ein bisschen was gegeben …

Gut, den Tod habe ich ihr natürlich nicht gewünscht! Blut ist ja immer noch dicker als Wasser. Und ich habe ja keine anderen Geschwister. Aber vielleicht ist es ja besser so für sie. Das war ja kein wertvolles Leben mehr. Und für unsere Eltern ist es bestimmt auch besser, sich nicht weiter zu quälen mit unerfüllbaren Hoffnungen. Irgendwann lässt deren Schmerz nach. Und dann sehen sie endlich, was sie an mir haben. Ach das wird schön!


"Mecklenburg Am Samstag wurde im Baggersee die Leiche einer 57- jährigen Frau
gefunden. Die Obduktion ergab, dass sie auf Grund einer massiven Überdosis eines
Drogencocktails einen Herzstillstand erlitt und ertrank. Die näheren Umstände konnten
nicht geklärt werden, da sich außer der Toten nur weitere Obdachlose in der Nähe befanden,
die ebenfalls unter extremem Einfluss von Betäubungsmitteln, Alkohol und weiteren Drogen
standen."

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