Donnerstag, 7. März 2019
Kapitel 2: Mokick
petracelli, 17:22h
Unter uns, ich muss Ihnen sagen, meine Schwester ist ja nicht mein erster Trauerfall gewesen. Ich bin ja wirklich vom Schicksal gebeutelt. Das meinen meine Bekannten auch alle. Ausgerechnet so ein lieber, freundlicher Mensch wie ich muss soviel Leid ertragen. Das glauben Sie mir sicher kaum. Der erste Schicksalsschlag traf mich schon in frühester Ju-gend. In einem Alter, indem man sowieso besonders verletzlich und sensibel ist. Es war meine erste Liebe, ach was, Schwarm, würde ich rückblickend sagen. Eine Schwärmerei mit 15, als Rüdiger schon 16 war und ein Mokick fahren durfte. Er war ein toller Typ. Total cool und bei den Mädchen wie den Jungen sehr beliebt.
Ein richtiges Schwein war der! Heute würde ihm jeder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnosti-zieren. Nur du warst so blind vor hündischer Unterwürfigkeit und speichelleckender Bewunderung. Ich schäme mich heute noch für dich, wenn ich daran denke. Wie der dich behandelt hat. Wie einen Fußabtreter. Und du warst so froh, wenn er dich überhaupt nur mal beachtete. Hatte er gerade keine Mieze am Start, dann warst du für einen Fetenabend gut genug. Erbärmlich!
Ja, ich kann nicht verhehlen, dass ich stolz darauf war, dass er sich für mich interessierte. Für mich, die gerade erst ihre Zahnspange los war, ihre Einlagenschuhe gegen Klotzschen mit hohen Korkabsätzen getauscht hatte und auf die ersten Kontaktlinsen hin sparte. Es waren halt die siebziger. Wie wir damals aussahen mit unseren Schlaghosen und Travoltahemden- zum schießen. Na ja und irgendwie muss er mich ja auch gut gefunden haben, sonst hätte er ja nicht 13 Mal mit mir rumgeknutscht. Ja, ja, ich habe mitgezählt. Elf mal davon war er betrunken. Ich aber auch. Auch meine Entjungferung entstammt so einer Aktion. Ach, ich werde ganz gerührt vor sentimentalen Erinnerungen. Das war eine so schöne Zeit …
Die Zeit zwischen 14 und 16 liegt in einem nebeligen Tunnel. Die meiste Zeit war ich todunglücklich, oft bis an den Rand der Suizidgefährdung. An die Wochenenden habe ich kaum noch Erinnerung. Die erlebte ich zum größten Teil volltrunken. Und die Schulzeit? Tja, in dem Idiotenverein bin ich nicht mehr viel aufgetaucht und selbstredend in der achten Klasse sitzengeblieben. Davon habe ich mich irgendwie nicht mehr richtig erholt. Also von der Schule runter, Friseurausbildung angefangen, blah, blah, blah, Horrortrip eben …
Schuld war er. Ganz klar. Haben meine Freundinnen auch gesagt. Warum rennst du hinter dem Scheiß-haufen her? Der verarscht dich doch nur. Aber ich konnte nicht anders. Es gab keinen anderen. Er oder keiner.
Rüdiger hatte wunderschöne blaue Augen und so ein energisches, etwas vorstehendes Kinn. Sehr männlich für sein jugendliches Alter. Und er konnte so super tanzen. Voll der Discomacker. Night fever, night fever…Ich sehe ihn immer noch vor mir, wenn ich die Augen schließe. Dabei hatte er es nicht leicht. Sein Vater war wohl sehr autoritär. Es ging das Gerücht um, er hätte ihn sogar geschlagen. Das hat meine soziales Herz natürlich sofort angetriggert. Ich wollte ihm so gerne meine Liebe und absolute Loyalität beweisen. Aber irgendwie, ich weiß auch nicht warum, guckte er sich ständig nach anderen Mädchen um Dabei verstand ihn doch sowieso keine so gut wie ich. Niemand konnte so tief in seine Seele blicken wie ich.
Lustig hat er sich gemacht, der Arsch. Hat vor anderen Jungs angegeben, wie viele Finger er in mich rein gesteckt hätte. Und dass er mit mir alles machen könne, was er wolle. Ich sei ihm hörig.
Ein Junge, also um genau zu sein, mein späterer erster Ehemann, hat sich mit ihm im Gemeindehaus mal geschlagen. Ich habe leider nicht mitbekommen warum. Er hat mir später erzählt, er hätte meine „Ehre verteidigt“. So ein Quatsch. Da hatte ich ihn nicht drum gebeten. Was zwischen Rüdiger und mir gelaufen ist, war ganz alleine unsere Sache. Und wenn er irgendwas über mich erzählt hatte, war das ja nur ein Zeichen, dass ich ihm auch im Kopf rum schwirrte.
Irgendwann kippte das Ganze. Da kam ein neues Mädchen in unsere Clique und Rüdiger scharwenzelte von Anfang an um sie herrum. Ich bin bald durchgedreht. Erst wollte ich noch auf Gönnerin machen. Tolerant, verstehend, liebevoll gewährend, so auf diese Tour. Aber weißt du noch die Situation mit der Zigarette? Wir hatten ja alle nicht viel Geld; eigentlich alle nur Taschengeld als Schüler. Bis auf meinen späteren ersten Ehemann, der schon in der Ausbildung war und Lehrlingslohn bekam- Gas- Wasser- Scheiße. Na ja und Ziggis wurden eben immer geschnorrt. In alle Richtungen. Rüdiger war aber immer besonders kniepig. Und als er im Eiskaffee- ja, damals durfte man noch überall rauchen, nicht wie heute bei den ganzen Verbotsnazis- na auf jeden Fall ein paar Zigaretten verteilte, da überging er mich. Nicht, dass ich jetzt so scharf darauf war, aber die Kränkung, so vorgeführt zu werden, ließ in mir alles abwech-selnd kalt werden und heiß kochen. Zur Krönung, weil die anderen ein bisschen peinlich berührt verstumm-ten, schmiss er mir eine zu. Einfach ohne Worte, wie einem Hund ein Stück Wurst gegen die Brust. Irgendwas ging dann bei mir kaputt.
Ach, es hätte sicher noch was aus uns werden können. Aber das Schicksal schlug eben zu. Es war so tragisch und wenn ich jetzt daran denke, werde ich sofort wieder furchtbar traurig. So ein junger Mensch, in der Blüte seines Lebens. Warum lässt der liebe Gott so was zu? Ich will ja nicht blasphemisch sein. Aber so einen herzensguten, junger Mann darf es doch einfach nicht treffen, oder? Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich. Und ich ja auch, mit ihm. Unsere Kinder hätte ich Svenja und Björn genannt. Bei seinen blauen Augen war bestimmt was Schwedisches in seiner Ahnenreihe. Tja, aber so leichtsinnig, wie die Jungs in dem Alter sind, da konnte natürlich immer was passieren. Er wollte wohl besonders lässig sein. Da hat man heute, in reiferen Jahren, ja kein Verständnis mehr für. Er fuhr also mit seinem Mokick am Badesee los zum Eiswagen. Nur mit einer Badehose bekleidet. Ich hatte ihn vorher noch gewarnt und ein paar Bemerkungen zu frisierten Maschinen oder so gemacht. Ach Gott, es war so schrecklich.
Ich solle die dumme Fresse halten, hatte er mich angezischt. Aber natürlich so, dass alle, und besonders seine neue Flamme, es hören konnten. Ich hätte keine Kenne von Mopeds und solle “den Kopp zu machen“. Da war wieder das Rauschen in meinem Kopf vor brennend heißer Wut. Dass er es wagte, mich so zu erniedrigen. Vor allen anderen! Als ich hinter seinem Mokick zum Seekiosk ging, sah ich genau, dass dort Feuchtigkeit unter dem Ständer zu sehen war. Aber ich sollte ja die Fresse halten …
Die Nachricht, dass er mit dem Mokick weggerutscht und halbnackt mit dem Rücken unter den Eiswagen geprallt war, bekam ich erst abends. Meine Freundin rief bei meinen Eltern zu Hause an. Die wollten mich natürlich so spät nicht mehr ins Krankenhaus lassen, aber ich war nicht aufzuhalten. Der Mann meines Lebens war in Gefahr und brauchte mich! Nun würde er endlich erkennen, wer wirklich in der Not zu ihm stand. Ich könnte beweisen, dass ich auch noch bei ihm blieb, wenn sich alle Freunde, und vor allem das an-dere Mädchen, von ihm abgewandt hatten und wieder ihren spaßigen Interessen nachgin-gen. Ohne sich um ihren verunglückten Freund zu kümmern, einem Krüppel, vielleicht für immer querschnittsgelähmt …
Als ich ins Krankenzimmer kam, waren zu meinem Entsetzen die anderen Spacken und seine Perle auch noch da. Scheiße, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich ging also noch mal auf dem Flur und tat, als suchte ich einen Getränkeautomat oder so was. Erst als ich hörte, wie die letzten von der Nachtschwester, die jetzt ihren Dienst antrat, raus geworfen wurden, kam meine große Stunde. Ich würde ihm die Zeit vertreiben, ihn nicht in seinem Schmerz nach der Operation an dem gebrochenen Bein alleine lassen, son-dern tapfer an seinem Bett sitzen und zu ihm stehen. Dann würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen: die Frau seines Lebens. Durch Dick und Dünn, bis dass der Tod uns scheidet …
Besonders freundlich war er nicht. „Was willst du denn schon wieder hier? Du gehst mir so auf die Eier- verpiss dich endlich!“ Tja, was sollte ich dazu sagen? Ich stammelte etwas von wegen, Oma oben besucht und noch mal rein gucken. Er hatte aber anscheinend schon Schlaf- und Schmerzmittel für die Nacht bekommen. Er war schließlich gerade ganz frisch operiert worden. Also zog ich mich leise zurück.
Die Nachricht von seinem Tod in der Nacht lässt mich aber immer noch, auch nach all den Jahren, fassungslos zurück. Was hätte aus uns werden können!
"Mecklenburg Am Samstag wurde ein 16- jähriger junger Mann am Badesee
schwer verletzt, als er mit seinem Mokick, ohne entsprechende Schutzkleidung,
unter einen parkenden Wagen rutschte. Trotz umgehender Operation erlag er
in der Nacht seinen Verletzungen. Ein Bürgerbegehren fordert jetzt die Sperrung
der gefährlichen Strecke für Zweiräder am Wochenende." PC
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