Donnerstag, 14. März 2019
CHANCENLOS: Meine Rivalin war die Musik!
petracelli, 09:50h
Vicky B.; (37):
Der Konzertbesuch sollte ein unvergessliches Geschenk für meinen Freund werden. Doch dann verschwand Carsten spurlos hinter der Bühne. Die Aussprache, als ich ihn wieder aufgespürt hatte, öffnete mir endlich die Augen ?
*
Während der Zeit unseres Kennenlernens fand ich Carstens Leidenschaft für die Bluegrass- Musik noch richtig rührend.
?Wenn die Abendsonne auf die Weiden von Kentucky scheint, schimmert das Gras blau!?
Begeistert erklärte er mir stundenlang Ursprung, Instrumente und Liedtexte. Es war auch durchaus romantisch, wenn er mir am Lagerfeuer Titel wie `Je länger das Warten, umso süßer der Kuss` vorsang. Das hatte durchaus mein Herz berührt. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass seine Passion innerhalb von knapp zehn Jahren ein Fluch für unsere Beziehung werden würde.
Als Erzieherin hatte ich einen anstrengenden Beruf. An manchen Wochenenden war ich auch froh, wenn ich mich einfach mal ausruhen oder mit meinen Freundinnen treffen konnte. Carsten war in den letzten Jahren allerdings in jeder freien Minute, die ihm sein Schichtdienst als Polizist ließ, unterwegs zu Bluegrass- Festivals. Ich gönnte ihm den geliebten Ausgleich zum Beruf von Herzen. Auch verstand ich, dass er innerhalb Deutschlands weit reisen musste, um Gleichgesinnte für diese ungewöhnliche Musikrichtung zu finden. Seine Ausflüge wurden allerdings immer länger und gingen mittlerweile bis Frankreich, Belgien und Holland. Gemeinsame Freizeit gab es so gut wie gar nicht mehr. Ich war nun aber in einem Alter, in dem sich bei mir der Wunsch nach eigenen Kindern immer deutlicher meldete.
?Noch das Festival im Pfälzer Wald?, bat er, ?dann können wir ja mal sehen.?
Doch danach kam ein weiteres Musikertreffen in Polen und ein Mundharmonika- Workshop in Finnland. Schließlich einigten wir uns auf seinen 40. Geburtstag. Danach würden wir unsere Hochzeit und unsere Familiengründung planen.
Ich war so froh und dankbar, dass ich ihm ein besonderes Geburtstagsgeschenk machen wollte.
?Köln??, fragte er verwundert. ?Wieso denn ausgerechnet Köln??
Ich musste innerlich schmunzeln als ich Carstens ratlosen Blick sah. Er hielt an seinem runden Geburtstag zwei Flugtickets und Übernachtungsgutscheine in der Hand.
?Lass dich überraschen, mein Schatz- du wirst Augen machen!?
Ich freute mich so sehr, dass es mir gelungen war, zwei Konzertkarten für Carstens absolutes Musikeridol, Nelly Wilson, in Köln zu ergattern. Das würde ein Höhepunkt in seinem Musikerleben werden. Wie ein Kind freute ich mich auf den Moment. Wenn ich geahnt hätte, was mir selbst für eine schreckliche Überraschung bevor stand ?
Carsten war ziemlich still, als wir die Koffer in unserem Kölner Altstadthotel auspackten.
?Und jetzt? Was möchtest du in Köln besichtigen??, fragte er lustlos.
Ich hielt ihm die Augen zu und führte ihn zu den Konzertkarten, die ich auf der Tagesdecke drapiert hatte.
?Nelly Wilson! Nelly Wilson? Mein Gott Vicky, das hast du für mich gemacht? Danke, du bist die Beste!? Er enttäuschte mich nicht mit seinem Freudenausbruch. Die Überraschung war gelungen.
?Weißt du, Nelly ist die beste Stimme der ganzen Bluegrass- Szene. Sie spielt die Mandoline wie keine andere und ??, sprudelte es aus ihm selten lebhaft heraus. Fast verspürte ich etwas Eifersucht, als er auch noch davon schwärmte wie sexy Nelson Wilson in ihrer knappen Fransenweste aussähe. Aber ich lachte und mein Herz floss über vor zärtlicher Liebe angesichts seiner kindlichen Freude. So viel hatte er seit Jahren nicht mit mir gesprochen.
Carsten war weiter wie ausgewechselt, als wir zusammen mit anderen Fans in die Konzerthalle strömten. Er fachsimpelte mit völlig Fremden, tauschte Telefonnummern an der Theke im Foyer aus und summte selig vor sich hin. Ich kam mir unsichtbar und überflüssig vor, wie meistens, wenn es um seine Musik ging. Neid bohrte sich wieder in mein Herz. Ich wünschte mir so sehnlich, er hätte auch mit mir so eine gemeinsame Leidenschaft. Aber egal, diesen Abend wollte ich in vollen Zügen mit ihm genießen.
Während des Konzerts war ich bei meinem Freund natürlich komplett abgemeldet. Er schien hingerissen von der Show. In der Pause vor dem letzten Set geschah es. Als die Musiker ihre Instrumente für den Titel stimmten, zog Carsten plötzlich seine Mundharmonika aus der Tasche und begann Nellys Wilsons erfolgreichsten Titel zu spielen. Nelly stutze, trat an den Bühnenrand und rief einem Security- Mitarbeiter etwas zu. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Bestimmt warf man uns jetzt raus. Aber im Gegenteil: Carsten wurde an die Seite der Bühne geführt und sprang munter die Stufen hoch. Nelly forderte das Publikum auf zu applaudieren und stimmte ihren Superhit an. Carsten sah kurz unsicher zu ihr hinüber und begleitete sie dann aber selbstsicher auf seiner Mundharmonika. Unfassbar! Von diesem Augenblick würde er sicher noch jahrelang zehren und mir ewig dankbar sein. Daran glaubte ich in diesem Moment jedenfalls ganz fest.
Carsten durfte tatsächlich bis zum Schluss auf der Bühne bleiben. Nach der letzten Zugabe bedankte sich Nelly Wilson bei ihrem Publikum. Ich verstand nur die Worte `german guy` und `backstage`. Um meinem `deutschen Jungen` zu signalisieren, dass ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn er noch kurz mit hinter die Bühne ginge, versuchte ich Blickkontakt zu ihm zu bekommen. Aber Carsten guckte mich gar nicht an. Er winkte fröhlich ins Publikum und verschwand hinter dem Vorhang.
Also blieb mir nichts anderes übrig als zu warten. Das Auditorium leerte sich allmählich. Einige Fans grinsten mich an oder klopften mir auf die Schulter. Schließlich ging ich ins Foyer und holte schon mal unsere Jacken von der Garderobe. Als schließlich alle Leute verschwunden waren, kam der Hausmeister und begann die Plastikbecher zusammen zu fegen. Er führte mich schließlich hinter die Bühne, um Carsten mit mir zu suchen.
?Wo ist der Typ mit der Mundharmonika??, fragte er den Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst, der Carsten auf die Bühne geleitet hatte.
?Der ist weg!?, antwortete dieser lapidar.
?Wie, weg??, fragte ich verständnislos. Daraufhin deutete er nur auf den Tourbus mit dem übergroßen Konterfei von Nelly Wilson auf der Seite, der sich gerade in Bewegung setzte. Und im selben Augenblick sah ich ihn auch. Carsten! Nur schemenhaft hinter der Heckscheibe, aber doch deutlich zu erkennen mit Nellys Möchtegern- Cowboyhut. Der Bus bog um die Ecke der Konzerthalle und mein Freund war weg ?
Die erste Nacht im Hotel blieb ich noch relativ ruhig. Allerdings schreckte ich immer wieder aus einem leichten Schlaf, in der Annahme, ich hätte ihn gehört. Einmal versuchte ich ihn auf dem Handy zu erreichen, doch der Apparat klingelte auf seinem Nachttisch. Gegen drei Uhr wich meine Sorge langsam einer heftigen Wut wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Dann redete ich mir aber wieder gut zu. Sollte er doch seinen Spaß haben und mit den Musikern durch die Kneipen ziehen. Irgendwann im Morgengrauen musste er ja wieder auftauchen.
Doch das tat er nicht. Gegen acht Uhr ging ich in den Frühstücksraum. Vielleicht saß er ja schon längst beim Kaffee und wollte mich nur nicht wecken. Aber nein. Die Tränen der Enttäuschung schnürten mir die Kehle zu. Was sollte ich denn bloß tun, wenn er nicht wiederkam?
Gegen Mittag fragte ich an der Rezeption, ob jemand eine Nachricht für mich hinterlassen habe. Aber auch das war nicht der Fall. Auf Grund der Müdigkeit und des Wechselbads der Gefühle brach ich dort in Tränen aus, als ich dem Herrn am Empfang die Situation schilderte.
?Können wir die Polizei einschalten??, schniefte ich verzweifelt.
?Das wird wohl noch zu früh sein. Außerdem handelt es sich ja um einen erwachsenen Mann. Warten Sie mal ab. Bald taucht er hier reumütig wieder auf?, versuchte mich der Hotelmitarbeiter aufzumuntern.
Ich wagte nicht mich weit vom Hotel zu entfernen, falls Carsten versuchen würde, mich zu erreichen. Also hielt ich mich abwechseln auf meinem Zimmer, im Foyer und schließlich in der Hotelbar auf. Dort trank ich zur Beruhigung mehr als ich eigentlich vertragen konnte. Irgendwann stellte sich mein benebelter Kopf die Frage, was ich eigentliche hier machte. Auf was für einen Mann wartete ich hier, der mich einfach stehen ließ und ohne ein Wort verschwand? Und warum tat er das- war ich ihm so wenig wert?
Fragen über Fragen taten sich in den nächsten Stunden auf, denen ich mich vorher nie hatte stellen wollen. Zuletzt zweifelte ich daran, ob unsere Beziehung überhaupt noch einen Zukunft hätte. Ich war bald Ende 30 und wünschte mir endlich eine Perspektive. Kinder, eine Familie mit einem Mann, dem ich vertrauen und auf den ich mich verlassen konnte. War das mit Carsten überhaupt möglich?
Als Carsten am nächsten Morgen immer noch spurlos verschwunden blieb, führte der Empfangschef mich zum Hotelmanager. Er bot mir an nun die Polizei einzuschalten.
?Ich hätte da aber auch noch eine andere Idee?, meinte er. ?Wenn Sie möchten, erkundige ich mich beim Konzertveranstalter, wo die Band den nächsten Auftritt hat. Dann besorgen wir ihnen einen Leihwagen und Sie könnten hinterher reisen.?
Im ersten Moment wollte ich das Angebot empört zurückweisen. Ich lief doch keinem Mann nach, der mich so behandelte! Doch dann entschied ich mich anders: ich wollte eine Erklärung. Carsten sollte mir ins Gesicht sagen, was er sich dabei gedacht hatte. Und vor allem, warum ich ihm noch nicht einmal eine Nachricht wert war?
Der nächste Gig der Nelly- Wilson- Band war vom Hotelmanager schnell herausgefunden und mit dem Leihwagen auch gut zu erreichen. Mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf nach Münster.
Ich kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen des Kulturzentrums schlossen. Gespannt wartete ich im hinteren Teil, ob Carsten auch hier auftreten durfte. Tatsächlich spielte er wieder das letzte Set mit. Meine Gefühle fuhren Achterbahn bei seinem Anblick. Wir waren fast zehn Jahre ein Paar. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr richtig vorstellen. Aber fühlte er das gleiche für mich? Warum behandelte er mich so desinteressiert? Liebte er die Musik tatsächlich mehr als mich? Was hätte ich jemals für Chancen gegen so eine Rivalin?
Carsten legte sich richtig ins Zeug. Doch als die Background- Sängerin auf ihren hochhackigen Overknee- Stiefeln auf ihn zustöckelte, gab er noch mal alles. Lasziv warf sie ihre roten Locken in den Nacken, als sie ihn schmachtend an sang. Vielsagend reckte sie ihm ihr in Leder geschnürtes Mieder entgegen. Eine perfekte Show- oder war es mehr? Eine nie gekannte, hässliche Eifersucht nagte in mir.
Als die letzten Töne verklungen waren und die Scheinwerfer ihn nicht mehr blendeten, sah Carsten mich plötzlich. Was er dann tat, hatte wieder mein Herz berührt und meine Gefühle für ihn weiter verwirrt. Er schnappte sich das Mikrofon und rief:
?Vicky! Wie schön, dass du hier bist!? Dann sang er à cappella mein Lieblingslied, das davon handelte, wie süß die Küsse nach einer langen Trennung sind.
Die nächtliche Aussprache dauerte bis drei Uhr in der Früh. Carsten bat mich mit seinem unwiderstehlichen Charme um Verzeihung.
?Ich habe mich so sehr über dein Geschenk gefreut. Das wolltest du doch, oder? Darüber habe ich eben Zeit und Raum vergessen. Du kennst mich ja!?
? Aber wie soll das denn zukünftig laufen, wenn wir ein Kind haben??, gab ich zu bedenken. Meinen Einwand wischte er mit der Vision zur Seite, in der ich ihn mit Kind zu den Festivals begleitete.
?Dort sind genug andere Frauen, um dir die Zeit zu vertreiben, während ich musiziere.? Er redete so lange auf mich ein, dass ich tatsächlich zum Schluss das Gefühl hatte, ich sei viel zu egoistisch.
?Du hast ja gewusst, dass mir die Musik über alles geht. Nun brauchst du dich auch nicht beschweren, wenn ich nicht jedes Wochenende bei dir sitze und Händchen halte.?
In diesem Tenor ging es weiter, bis er mir schließlich Eifersucht vorwarf- auf Frauen, die musikalischer wären als ich. Aber vor allem auf seine Leidenschaft zur Musik selbst, weil ich nicht im Stande sei mir ein gleichwertiges Hobby anzueignen. Er konnte so überzeugend reden, dass ich ihm irgendwann alles glaubte.
Psychisch und körperlich erschöpft schlief ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen gaben wir meinen Leihwagen am Flughafen München- Osnabrück ab und checkten Richtung süddeutscher Heimat ein. Die Sicherheitskontrollen gingen zügig voran. Schon bald saßen wir vor dem Gate unseres Fliegers. Hier sprachen wir kaum noch ein Wort. Carsten guckte sich auf seinem Smartphone Videos von seinem gestrigen Auftritt an. Zweimal auf der großen Showbühne und er hatte schon Starallüren. Wo sollte das bloß hin führen?
Ich war wie benommen und fürchtete unsere Rückkehr in den Alltag. Zweimal versuchte ich den Gesprächsfaden der letzten Nacht noch einmal aufzunehmen, aber Carsten wies mich unwirsch ab. Für ihn gab es nichts mehr zu klären.
Unser Flug wurde aufgerufen und Carsten und ich reihten uns in die Schlange zur Gangway ein.
Plötzlich sprach ihn eine junge Frau an. Sie schienen sich zu kennen. Als ich an seiner Schulter vorbei blickte, sah ich die bekannten roten Locken von gestern Abend. Ich hörte Sprachfetzen, die sich auf das gestrige Konzert und anscheinend auch auf die Nacht davor bezogen. Doch anstatt mich vorzustellen oder wenigstens in das Gespräch einzubeziehen, ging Carsten Seite an Seite mit der hübschen Sängerin weiter. Ihm schien es eher lieb zu sein, dass ich mich nicht als seine Lebensgefährtin zu erkennen gab. In dem engen Tunnel, der an der Bordtür mündete, drängte sich eine lärmende Schülergruppe zwischen die beiden und mich. Ich versuchte mich winkend bei Carsten bemerkbar zu machen und rief ihm hinterher, er möge bitte auf mich warten. Doch er stieg in das Flugzeug ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.
Da platze der Knoten in mir. Ich wusste auf einmal schlagartig, dass ich keinen Tag länger mit diesem egoistischen, selbstbezogenen Mann zusammen sein wollte. Gegen den nachdrängenden Strom der Menschen lief ich zurück, drückte der überraschten Hostess mein Flugticket in die Hand und rief:
?Jetzt reicht` s mir!?
Während der langen Zugfahrt zurück nach München hatte ich genug Zeit, mein impulsives Verhalten zu durchdenken. Ich kam immer wieder zu dem gleichen Schluss. Ich hatte keine Chance. Die Musik würde, leider, immer zwischen uns stehen. Einfach, weil sie bei Carsten die Nummer eins war. Ebenso würde er immer sein musikalisches Umfeld meiner Gesellschaft vorziehen. Sicher, ich hätte auch ein Instrument lernen können. Wir sollten vielleicht zusammen musizieren und die Welt bereisen. Was so romantisch klingt, hätte aber bedeutet, dass ich mich komplett verbiegen müsste. All meine Interessen wären Carstens Wünschen dauerhaft unterzuordnen. Denn, im Gegensatz zu seiner Wahrnehmung, war ich durchaus vielseitig interessiert und begeisterungsfähig. Er hatte es nur nie wahrgenommen, da es nichts mit Musik zu tun hatte.
So zog ich die schmerzhaften Konsequenzen. In einer langen Nachricht erklärte ich ihm meine Entscheidung. Ich bat ihn, sich abends für ein klärendes Gespräch Zeit zu nehmen. Wir sollten in Ruhe besprechen, wie wir im Guten auseinander gehen könnten. Als ich zu Hause eintraf, war er nicht da. Am nächsten Tag fand ich nach der Arbeit eine halb leer geräumte Wohnung vor. Ich sah Carsten nie wieder.
Heute, zwei Jahre später, freue ich mich sehr auf meine Hochzeit in drei Wochen. Ich habe einen wundervollen Mann gefunden, der sich mit mir auf eine gemeinsame Zukunft und unser Kind freut, das sich vor kurzem angekündigt hat.
Und das Beste: mein zukünftiger Ehemann ist absolut unmusikalisch!
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